Spezielle Wohnformen

Wohnen in den Bäumen

2021 erhielt das Wohnprojekt «In den Bäumen» in Egg ZH den Binding Innovationspreis für Biodiversität. Bei diesem Wohnprojekt steht die Natur im Zentrum – Permakultur ohne Berührungsangst.

von Judith Supper

Journalistin

Die Wohnsiedlung «In den Bäumen» liegt in idyllischer Landschaft ausserhalb der Ortschaft Egg bei Zürich. Direkt an einer Landwirtschaftszone inmitten von grossen Bäumen ist zwischen 2017 und 2020 ein Wohnraum entstanden, der zukunftsweisend ist. «Mein Traum war eine Siedlung, in der sich tierische und pflanzliche Arten entfalten können, und die gleichzeitig so gestaltet ist, dass sich Menschen darin wohlfühlen», sagt Simone Baumann. Sie hatte das Grundstück von ihren Grosseltern, die hier einst Landwirtschaft betrieben hatten, geerbt. Ihr war klar: An dieser Stelle soll etwas entstehen, das Mieter und Eigentümerinnen mit der Natur verbindet und wo sich Biodiversität entfalten kann. Ein ökologisches Ideal, das Baumann nach Permakultur-Prinzipien und entsprechend dem Vorbild des Waldgartens umsetzen wollte.

Im Zuge des Neubaus entstanden auf dem 5150 m² grossen Areal inklusive Landwirtschaftsfläche drei Holzbauten mit insgesamt neun Wohnungen sowie einem Gemeinschaftsraum. 2021 hat das Projekt den Binding Innovationspreis für Biodiversität erhalten, zudem eine Goldmedaille vom Baupreis Architekturforum Zürcher Oberland 2020 - 2022.

Der essbare Garten weitergedacht

Als Gestaltungsprinzip folgt die Permakultur einem gesamtheitlichen Ansatz. Ihr Ziel ist es, natürliche Ökosysteme und Kreisläufe der Natur nachzuahmen, so dass in sich geschlossene, selbstregulierende, dauerhafte Systeme entstehen. Pestizide, Düngemittel und Monokulturen sind tabu, Böden werden gemulcht und bleiben unbearbeitet. Ein wichtiges Element sind Waldgärten. Sie orientieren sich an dem natürlichen Ökosystem «Wald». In der einfachen Umsetzung sind das Baumschicht, Strauchschicht und Krautschicht. Richtig geplant, lassen sich Obst, Beeren und Nüsse ernten. Neben essbaren Stauden und Kräutern wachsen Kletterpflanzen wie Hopfen oder Wein, unter der Erde Wurzelgemüse und Knollen. Dank der vielen verschiedenen Pflanzenarten können sich Schädlinge kaum etablieren.

Kein Normalfall

Für die Umsetzung arbeitete die Bauherrin mit den Architekten Osterhage Riesen sowie dem Permakulturdesigner Ramon Grendene zusammen. Dass die Landschaftsgestaltung Hand in Hand zur baulichen Planung und Ausführung geschah, ist kein Normalfall. Konzepte wie das «Animal Aided Design» versuchen, das zu ändern – oder eben Permakultur-Prinzipien. Die Ausgestaltung der speziellen Umgebung hatte das Dreierteam gemeinsam erarbeitet, die Architekturseite wurde von Jan Osterhage und seinem Büropartner entwickelt. Spezifische Inputs für die Umgebungsgestaltung inklusive Pflanzenauswahl kamen vom Permakulturdesigner. Zudem hatte Grendene Elemente eingebracht, die weniger architekturtypisch sind, beispielsweise die runden Formen der von Bollersteinen umfassten Pflanzbeete. Gefällte Bäume hatte er in die Aussenraumgestaltung integriert, teils einfach als Totholz, in dem Insekten eine Heimat finden.

Ein Grossteil des alten Baumbestands wurde erhalten. Auch der beim Aushub ausgegrabene Lehm wurde als Grundputz für die Innenwände wiederverwendet. Auch dies ist ein Permakultur-Grundsatz: kurze Transportwege bei möglichst breiter Nutzung der vorhandenen Bausubstanzen.

Alles ist begrünt

Heute wachsen über tausend Pflanzen in mehr als 700 Arten «In den Bäumen», darunter pflegeleichte Gehölze wie Sanddorn und Berberitze, Wildrosen, Pfaffenhütchen und Mispeln sowie Stauden wie Echinacea, Malven, Engelwurz, Ewiger Kohl oder die Gemüse-Artischocke Kardy. Hinzu kommen zahlreiche Pfirsich- und Apfelbäume. Alles in allem sind es über 190 essbare Pflanzen, von denen Mieterinnen und Eigentümer ernten können. Fassaden, Balkone, Dächer – alles ist begrünt.

Zwischen all dem Pflanzenreichtum agieren die Menschen. In den Bewohnerinnen und Bewohnern findet sich die moderne Schweiz wieder. Monatlich gibt es fixe Termine für die Gartenpflege, die aber nicht obligatorisch sind. Für Simone Baumann war das Gartenengagement niemals ein Ausschlusskriterium für neue Bewohner. «Wir möchten zeigen, wie durchschnittliches Wohnen aussehen kann, und allen, die wenig von Permakultur wissen, einen einfachen Zugang bieten. Unsere Wohnsiedlung war nie als Bauprojekt ausschliesslich für Permakultur-Interessierte gedacht.»

Mit der Natur verschmelzen

Besucher, die heute die gekiesten Pfade entlanggehen, entdecken Magerwiesen, Obst-, Beeren- und Gemüsepflanzen: Sie alle bilden einen vielgestaltigen Grünraum. Gehwege bestehen aus sickerfähigen Kiesbelägen. Sandarien für Wildbienen und ein Teich, der überschüssiges Regenwasser sammelt, lassen sich entdecken. «Bei starkem Regen füllt sich die Senke, bei Trockenheit entweicht das Wasser», sagt Osterhage. Zum Wohle der Tiere und weil die Bewohner viel Freude am Biotop mit seinen Kröten und Molchen haben, wird das Becken dauerhaft in ein Biotop umgewandelt. Zur besseren Wasser- und Nährstoffspeicherung ist Pflanzenkohle in allen Pflanzbeeten beigemischt, auch in den Dachgärten. Mit den Jahren soll die Architektur der Gebäude mit der Natur verschmelzen und von ihr durchwachsen werden.

Künftig wollen Simone Baumann, Jan Osterhage und Ramon Grendene weiter in Richtung «Wohnraum für Mensch und Natur» aktiv sein. Bereits ist ein weiteres Projekt, eine Wohnüberbauung in Kloten, im Gange. Aber das ist erst der Anfang. Das Dreierteam hält die Augen offen nach Wohnarealen, wo Tiere, Pflanzen und der Mensch gleichberechtigt existieren dürfen.

Alles in allem sind es 190 essbare Pflanzen, von denen die Bewohner ernten können. Fassade, Balkone, Dächer – alles ist begrünt.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers

Wohnen heute & morgen

Lesen Sie im Dossier spannende Reportagen über aussergewöhnliche Wohnformen und neue Formen des Zusammenlebens für Jung und Alt. Wir zeigen auf, wie es sich ein bisschen anders als üblich wohnen lässt – heute oder morgen. 

Wohnprojekt «In den Bäumen»

Hier erhalten Sie weitere Informationen über das Wohnprojekt «In den Bäumen» in Egg ZH.