Interior Design

Schillernd, vielbegabt und avantgardistisch

Sie war eine Pionierin der Design- und Architekturgeschichte und ihrer Zeit weit voraus: Eileen Gray. Obwohl ihre Möbel teils 100 Jahre alt sind, sind sie so modern und zeitlos, als wären sie eben erst entstanden.

von Silvia Schaub

Journalistin

Ob Eileen Gray ihm wohl die Türe geöffnet hätte? «Chum, mach mir uuf u la mi zu dir ine», fleht Büne Huber von Patent Ochsner mit seiner markanten Stimme. In seinem Song «Eileen Gray» besingt der Musiker die grosse Künstlerin, die 1878 geboren wurde und 1976 verstarb. «Was Eileen Gray gemacht hat, ging über ihre Zeit hinaus, ihr Denken hat den Rahmen gesprengt», schwärmt er in der Schweizer Illustrierten von der Designerin. Im Song steht er vor der Tür ihrer Villa E.1027 im südfranzösischen Roquebrune, drückt sich die Nase platt und begehrt Einlass.

Fast ein bisschen so kommt man sich vor, wenn man den Film «E.1027 – das Haus am Meer» der Schweizer Filmemacherin Beatrice Minger und von Co-Regisseur Christoph Schaub anschaut. Nur, dass man dank des Films auch Zutritt zu den Räumen erhält – und die Geschichte des Hauses aus dem Jahr 1929 erfährt. Denn die ist sehr prägend für die Designerin, die so viele Schranken niederriss, in einer Zeit, als für Frauen in diesem Business noch kein Platz vorgesehen war. Viele ihrer Möbel, Teppiche, Lampen und Spiegel hat sie explizit für dieses Haus am Meer entworfen, das sie für sich und ihren damaligen Partner Jean Badovici baute.

«Die Dinge müssen nicht nur gut aussehen, sie müssen sich auch gut anfühlen», sagte Gray einst über ihre Arbeitsweise. Sie musste allerdings sage und schreibe 93 Jahre alt werden, bis ihre avantgardistischen Entwürfe die Beachtung erhielten, die sie verdienen. Dabei begann ihr Schaffen bereits in den 1920er- und 1930er-Jahren. Die junge Eileen, die aus einer irisch-schottischen Adelsfamilie stammte, ging zum Studium der Architektur und des Designs nach London und Paris, schloss die Ausbildung allerdings nie ab. Sie widmete sich zunächst lieber der Lackkunst und stellte Lackwände und Dekorpanels her. 1913 zeigte sie erstmals ihre Lackarbeiten im «Salon de la Société des Artistes Décorateurs». Doch schon bald musste sie sich wegen einer Haut-Allergie auf Lackharze anderen Materialien zuwenden. Als noch niemand von High-Tech sprach, benutzte Eileen Gray bereits industrielle Werkstoffe wie Glas, Stahlrohr und perforierte Aluminium-Bleche. Sie wagte 1922 die Eröffnung einer Galerie unter dem männlich klingenden Namen Jean Désert und vertrieb ihre exklusiven Möbel und Teppiche. Doch das Geschäft lief nicht wie gewünscht.

Ihre Entwicklung sei eigentlich eine Entwicklung von innen nach aussen, sagt Filmemacherin Minger in einem Interview über das Werk von Gray. Sie beginnt mit den Möbelstücken – und endet beim Bau des Hauses. Das minimalistische Haus ist ein faszinierendes Gesamtkunstwerk. Farben, Formen und Materialien sind alle aufeinander abgestimmt. Der kryptische Name des Hauses bedeutet: E für den Vornamen der Designerin und die Zahlen 10, 2 und 7 für die Positionen der Buchstaben J, B und G im Alphabet. J für Jean, B für Badovici und G für Gray.

Sie war mit so vielen ihrer Ideen nicht nur modern für ihre Zeit, sie war ihr immer ein paar Schritte voraus. Was aber macht ihre Entwürfe so zeitlos? Oliver Holy, Alleininhaber und Geschäftsführer des deutschen Familienunternehmens ClassiCon, das der einzige lizenzierte Hersteller der Eileen-Gray-Kollektion ist, sagt: «Sie war unheimlich fortschrittlich und offen für alles. Sie arbeitete sehr akribisch – bis ins letzte Detail. Beim Entwerfen war für sie das Licht ein wichtiges Element. Selbst der Schatten der Möbel musste harmonisch sein. Und dazu hatten die meisten ihrer Möbel auch eine Funktion. Ich glaube, das ist der Grund, weshalb ihre Möbel noch heute so modern und zeitlos sind.»

Betrachtet man zum Beispiel ihr Masterpiece und heute meistverkauftes Möbel, den Adjustable Table E.1027 aus dem Jahr 1927, so staunt man in der Tat ob der durchdachten Funktionalität. Die Basis besteht aus einem abgerundeten Stahlrohr, das zwei vertikale Teile mit einem Verstellmechanismus hält. Die Abstellfläche aus Glas wird vom Stahlrohr getragen und kann nach Belieben in der Höhe verstellt werden. Kein Wunder steht dieses Möbelstück auch in der ständigen Sammlung des Museum of Modern Art in New York und gilt als eines der meistkopierten überhaupt.

Auch der Bibendum-Sessel mit seinem extravaganten Look ist längst eine Design-Ikone. Inspiriert vom bekannten Michelin-Männchen (franz. Bibendum) des Reifenherstellers Michelin, erinnert die Rücklehne an zwei aufgepumpte Reifen, bleibt aber in ihrer Form dennoch elegant. Filigran ist die Stehlampe «Tube Light» aus dem Jahr 1927, bei der die Glasröhre von einer parallel laufenden dünnen Chromröhre gestützt wird.

Oft vermitteln ihre Entwürfe auch einen Hauch von Schalk, wie der Non-Conformist-Sessel. Er irritiert auf den ersten Blick, weil eine Armlehne weggelassen wurde, und ist gerade deshalb so revolutionär. Dies laut Gray, um dem Körper mehr Bewegungsfreiheit zu lassen, und ihm zu erlauben, sich nach vorne zu beugen oder sich auf die andere Seite zu drehen.

Auch der kleine Frisiertisch Petite Coiffeuse zeigt, wie unkonventionell die Designerin bei ihren Entwürfen vorging. «Um etwas zu schaffen, muss man alles in Frage stellen», sagte sie und dachte deshalb weiter als viele ihrer Kollegen. Wie nur wenige Designer verstand sie, das Ästhetische mit dem Praktischen zu verbinden. Beim Frisiertisch mit den ausschwenkbaren Schubladen ist alles auf das Wesentliche reduziert, aber dennoch auf einen Griff bequem zu erreichen. Der Tisch lässt sich nicht nur zum Frisieren verwenden, sondern passt überall hin.

Eileen Gray war eine aussergewöhnliche Frau: schillernd, vielseitig begabt und avantgardistisch durch und durch. Auch optisch fiel sie mit ihrer Bubikopf-Frisur auf. Sie unternahm in jungen Jahren Ballon-Reisen und begleitete den französischen Aeronauten Hubert Latham bei einer Kanal-Überquerung in seinem selbst gebauten Flugzeug. Als eine der ersten Frauen fuhr sie Auto. «Ich hätte sie gerne kennengelernt», meint Oliver Holy von ClassiCon schmunzelnd.

Aus heutiger Sicht unverständlich, dass ihre Entwürfe erst in den 1970er-Jahren so richtig populär wurden. 1973 übertrug Eileen Gray die Lizenzen an ihrer Kollektion an den britischen Möbelhersteller Zeev Aram und brachte ihre Möbel zur Serienreife. Erlebt hat die Designerin ihren Erfolg allerdings nicht mehr. Sie hätte wohl Freude, zu sehen, wie begehrt ihre Möbelobjekte noch heute sind. Ihr Dragons Armchair wurde 2009 für den unglaublichen Betrag von über 21 Millionen Euro verkauft und war damit das bis dahin teuerste Designobjekt, das je in einer Auktion versteigert wurde.

Schön, dass dank ClassiCon immer wieder neue Möbel von Eileen Gray auf den Markt kommen. So legte das Unternehmen erst kürzlich anhand von Originalgouachen einige Teppiche neu auf. «Wir sind immer wieder mit dem Lizenzgeber im Gespräch für neue Produkte», sagt Oliver Holy.

Die Nachfrage nach Möbeln der Designerin dürfte nicht zuletzt dank des Films wieder gross sein. Inzwischen kann auch ihr legendäres Haus wieder besucht werden, es wurde renoviert und ist heute ein Wohnmuseum. Eileen Gray kehrte übrigens kein einziges Mal in die Villa E.1027 an der Côte d’Azur zurück. Der Grund war Le Corbusier, der sich das Haus nach ihrem Weggang zu eigen machte und die puristischen weissen Wände mit Wandmalereien übermalte. Für Gray ein Akt des Vandalismus.

«Entrez lentement» steht an der Hauswand neben dem Eingang. Und so hätte Eileen Gray wohl Büne Huber aufgefordert – und ihm die Tür weit geöffnet.

Eileen Gray

Der doku-fiktionale Architekturfilm «E.1027 – Eileen Gray and the House by the Sea» läuft noch vereinzelt in Kinos oder kann gestreamt werden z. B. unter: cinu.ch. Das Haus E.1027 in Roquebrune kann auf Vorreservation besichtigt werden: capmoderne.monuments-nationaux.fr

 

Die Möbel von Eileen Gray sind im gehobenen Fachhandel erhältlich.