Gryphenhübeli heisst das Quartier ausserhalb der Berner Stadtmauern. Es entstand aufgrund des Bevölkerungswachstums um 1900 als Osterweiterung der Stadt, der Grund war im Besitz der Berner Oberschicht, der Bernburger. Die Nydeggbrücke verband das Quartier mit der Altstadt. Es entstanden vom Jugendstil beeinflusste Villen mit grosszügigen Park- und Gartenanlagen. Bis heute ist der besondere Charme des Viertels spürbar.
Das Grundstück ist Teil der sogenannten Thormannschen Besitzung: Das Herrschaftshaus ist von einer Parkanlage nach englischem Vorbild umschlossen, sie wurde allerdings bereits im späten 19. Jahrhundert nach und nach parzelliert und verkauft. So entstand 1967 ein isolierter Grund inmitten des Parks, auf dem die Architekten Thormann & Nussli ein Haus im Landhausstil bauten. «Das gedrungene Haus erreichte aber leider die architektonische Qualität der Nachbarbauten nicht und wirkte seltsam fremd und isoliert», urteilten die Architekten Ivo Sollberger und Thomas Bögli, die beide bei Herzog & de Meuron als Projektleiter arbeiteten, ehe sie 2000 Sollberger Bögli Architekten in Biel gründeten. Von einem Neubau rieten sie den Bauherren nach gründlicher Prüfung trotzdem ab: Die Bausubstanz des robusten Massivbaus war hervorragend und hatte mit erst 53 Jahren das Ende ihrer Lebensdauer noch lange nicht erreicht.
Holzbauweise ersetzt Landhausstil
Die Struktur des Unter- und Erdgeschosses blieb weitgehend erhalten, das bestehende Dach wurde durch ein Obergeschoss in vorfabrizierter Holzbauweise ersetzt. Ein umlaufender, am Dach aufgehängter Balkon wirkt als Filter zu den Nachbarn, die ausgestellten Storen erlauben auch im geschlossenen Zustand den Blick in den Garten. Elegant umhüllt die filigrane, gerüstartige Konstruktion das Haus auf allen Seiten.
Mit dem alten Landhaus hat das neue Haus äusserlich nichts mehr gemein: Der Entwurf wurde von der Stadtbildkommission – Architekten, Landschaftsarchitekten, dem Stadtplaner, dem Bauinspektor, der Denkmalpflege und Stadtgrün Bern – eng begleitet. «Sie hat uns zusätzlich motiviert, eine angemessene und bewilligungsfähige Architektur zu entwickeln», sagen die Architekten. So ist es: Heute übersetzen der leicht transparente Sonnenschutz und die schimmernd schwarz lasierte Holzfassade aus Weisstanne die Noblesse der benachbarten Villen zeitgemäss. Das Haus erfüllt die Wohnansprüche der Bauherrschaft – eine fünfköpfige Familie mit Hund.
Die alte Treppe erschliesst die Räume. Bewusst steigert deren dunkle Farbigkeit die ursprüngliche Enge. Umso grosszügiger öffnet sich die Diele mit einem kunstvollen Oberlicht und raumhohen Eichentüren mit Profilglasfüllung. Die lineare Anordnung der Fenster und Innentüren im Obergeschoss sorgt für Sichtbezüge über die gesamte Tiefe und in die angrenzende Parkanlage und ermöglicht stimmungsvolles, komfortables Kochen, Essen und Wohnen mitten im Grünen. Callwey Verlag
«Ein Haus für eine junge Familie, das sich unaufgeregt und zurückhaltend in die hochgradig geschützte und noble Nachbarschaft integriert.»
Weitere Infos
● Standort: Bern
● Bauweise: Holzbau
● Anzahl Bewohner: 5 plus 1 Hund
● Wohnfläche: 453 m2
● Grundstücksgrösse: 1990 m2
● Architektur: Sollberger Bögli Architekten AG
Häuser des Jahres 2022
Die überzeugend besetzte Jury erkor aus 136 Einreichungen 50 Projekte und benannte aus diesen einen Preisträger, fünf Anerkennungen und einen Fotografiepreis. Dabei wurde Wert auf Nachhaltigkeit, innovativen Einsatz von Materialien, kreativen Umgang mit der baulichen Situation und auf konsequente Ausführung gelegt. Das Buch zum Wettbewerb präsentiert diese 50 besten Häuser – mit zahlreichen Fotos, Lage- und Architektenplänen und aussagekräftigen Projektbeschreibungen.
Häuser des Jahres. Die besten Einfamilienhäuser 2022.
Autoren: Turit Fröbe / Katharina Matzig. 320 Seiten, 450 farbige Abbildungen und Pläne. 23 x 30 cm, gebunden. ISBN 978-3-7667-2583-7. Das Buch ist in jeder Schweizer Buchhandlung oder im Onlineshop von Callwey erhältlich: callwey.de/shop
Urteil der «Häuser des Jahres»-Jury
Die Jury hat das Haus mit einer Anerkennung ausgezeichnet.
Umbauen und Weiterbauen sind die Disziplinen, die Architektinnen und Architekten im Klimanotstand zu beherrschen haben. Sollberger Bögli haben im Gryphenhübeli, Teil eines durchgrünten Villenquartiers von Bern, durch einen Umbau etwas Neues geschaffen und dabei eingespart: Das Fundament und der Keller der 1967 im Landhausstil erbauten Villa blieben erhalten. Die Bausubstanz des Massivbaus war hervorragend, und der dort verbaute Beton war in seiner Herstellung CO2-intensiv und sollte nicht unbedacht auf einer Mulde landen. Die Lage des Gebäudes mitten auf dem Grundstück im Park bot zudem die grösstmögliche Distanz zu den Nachbarn.
Indem die Architekten das ausladende Walmdach der behäbigen Villa durch einen Leichtbau aus Holz ersetzten, schufen sie einen Pavillon, dem man nicht ansieht, auf welchem Fundament er steht. Die quadratische Grundform unterstreicht die Allseitigkeit, eine beinahe schwebende Bodenplatte verleiht dem Gebäude eine leichte Erscheinung. Die umlaufende Veranda beschattet die Innenräume auf beiden Stockwerken. Ausstellbare, textile Sonnenstoren machen den Schwellenraum, der an zwei Orten im Obergeschoss grösser ausfällt, zu einem im Sommer angenehm belüfteten Bereich zwischen dem Innen und Aussen.
Die Struktur des Unter- und Erdgeschosses blieb weitgehend erhalten. Im Innenraum wird eine Ambivalenz zum äusseren Ausdruck des Hauses spürbar: Eine klassische Raumaufteilung und solide Türrahmen aus Eiche erwartet man nicht in einem vermeintlichen Leichtbau. Doch sie erzählen von der Entstehungsgeschichte des weitergebauten Hauses, dem auf den ersten Blick kein architektonischer Wert zukam. Sein Teilerhalt ist jedoch ein wertvoller Beitrag zu einem nachhaltigen Gebäudepark, der sich mit dem Bestand auseinandersetzen muss. Von Jenny Keller