Der Schweizerische Hauseigentümer: Frau Theus, worin lag das Besondere an der Bauaufgabe für das Mehrfamilienhaus in Uerikon?
Tilla Theus: Mein Credo war immer: Ein schlüssiges Konzept soll Rücksicht auf das Bestehende nehmen. Die angrenzenden Bauten der Wohnzone entsprachen in ihrer Körnung und Massstäblichkeit den Bauten der Kernzone. Im Laufe der Jahre erfolgte ein quantitativer Massstabssprung. Es galt deshalb, dazwischen eine vermittelnde Bebauung zu entwickeln, die sich sowohl in den historischen Weiler als auch die gewerblichen Gebäude am Gerbereiweg in Uerikon einfügt.
Welche besonderen Anforderungen wurden gestellt?
Die kleine Parzelle liegt gemäss dem gültigen Zonenplan in der Kernzone B. Für diese einzelne Parzelle galt die Gestaltungsplanpflicht. Konkret heisst das: Wir mussten eine Lösung finden, die zwischen den verschiedenen Massstäben in der Umgebung vermittelt.
Sie legen viel Wert auf den Dialog mit der Bauherrschaft. Ist Bauen eine Vertrauenssache?
Es gilt genau hinzuhören, Wünsche und Vorgaben der Bauherrschaften verstehen zu lernen, miteinander zu diskutieren und in den Entwurf einfliessen zu lassen. Dies ist als gemeinsamer Prozess zu verstehen. Das Resultat ist gegenseitiger Respekt und Vertrauen. Der französische Philosoph Paul Valéry unterscheidet zwischen den zu verachtenden «stummen» Bauten, den achtenswerten «redenden» und den bewundernswürdigen «singenden». Wenn sie gelingen, dann nur auf der Basis des Vertrauens, das sich Bauherrschaft und Architekt schenken.
Wovon haben Sie sich inspirieren lassen?
Ein wichtiger Grund für die unkonventionelle Form und Aussenhülle des Gebäudes ist die spezielle Lage des Gebäudes. Das Mehrfamilienhaus liegt unterhalb der SBB-Seelinie. So sehen die Zugpassagiere bei der Vorbeifahrt die Liegenschaft als Volumen aus der Vogelperspektive. Dieser Umstand bewog mich, für Dach und Fassade das gleiche Material zu verwenden: Tonziegel.
Wie korrespondieren die Bauten mit der Umgebung?
Die Materialisierung des Daches und der Fassade nimmt die Beschaffenheit der umliegenden Dächer auf. Durch den Zusammenbau der verschiedenen Gebäudevolumen ergibt sich eine weite mäanderartige Grundrissfläche, die mittels geneigter Schrägdächer eine Grossform definiert – scheinbar zufällig, gleichzeitig selbstverständlich. Mit dieser Selbstverständlichkeit gliedert sich der Baukörper in das Ortsbild ein. Er nimmt sich in der Höhe bewusst zurück, zollt den historischen Gebäuden Respekt und führt die bestehende Textur des Weilers in kreativer Sprache fort. Dank der verschieden ausgerichteten Fassaden steht das Gebäude mit allen Nachbarbauten in direktem Sichtkontakt.
Wie vermittelt Ihr Entwurf zwischen den Bauten des historischen Weilers und den gewerblichen Gebäuden am Gerbereiweg?
Im Gestaltungsplan wurde das Richtprojekt festgelegt, das bezweckt, dessen Umsetzbarkeit aufzuzeigen. Entstanden ist ein Mehrfamilienhaus mit zwei Zugängen und mit mäanderartiger Grundrissfläche und unterschiedlich geneigten Schrägdächern – scheinbar zufällig, aber auch selbstverständlich. Mit zwei Vollgeschossen und einem flachen Dachgeschoss nimmt sich die Grossform gegenüber den historischen «Gerbi»-Gebäuden bewusst zurück.
Die Textur der Fassade und des Daches ist aussergewöhnlich, unerwartet. Welche Idee lag dem zugrunde? Und woraus ergab sich die Wahl der Materialien?
Die Fassade weist einen muralen Charakter ähnlich den umliegenden Bauten auf. In und um Uerikon sind Tonziegel seit je verankert. Manches Landwirtschaftsgebäude in der Gegend schützt seine Wetterseite mit diesem Material.
Gute Architektur ist Liebe auf den zweiten Blick, haben Sie einmal gesagt. Was meinen Sie damit?
Gute Architektur ist nicht gängig oder anpässlerisch, sondern nimmt oft Zukünftiges vorweg. Das bedingt, dass wir uns mit ihr auseinandersetzen müssen, um sie verstehen und wertschätzen zu können. Es ist wie bei Menschen: Die einen gefallen auf den ersten Blick, enttäuschen aber später. Bei anderen braucht es eine Diskussion, die zu einem Verständnis führen kann und erst dadurch Wertschätzung möglich macht. Anders ausgedrückt: Meine Architektur muss nicht Liebe auf den ersten Blick sein. Mich freut, wenn meine Arbeit auf den zweiten Blick verstanden wird und dafür Bestand hat.
Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit in Ihrem Alltag?
Als in der Schweiz noch niemand von Nachhaltigkeit sprach, war sie für uns eine Selbstverständlichkeit. Sowohl der Respekt vor dem Bestand als auch die Um- und Weiternutzung. Mit dem neuen Empfinden für die ganze Gebrauchskette und die entsprechenden CO2-Ausstosse ist eine neue Erkenntnis gewonnen. Heute, so hoffe ich, hat Umbauen und Anbauen ein stärkeres Gewicht. Etwas, das mein Team und ich seit über 50 Jahren pflegen. Den Erhalt und die Weiterentwicklung von Bestandsbauten begreifen wir seit Jahrzehnten als Chance und leben damit Nachhaltigkeit als Entwurfsprinzip. Gerade im Hinblick auf die graue Energie ist das Abreissen und Neubauen oft eine grössere Energieverschwendung, als Bestehendes zu verbessern. Bei unserer Arbeit im Umbausektor ist der Gedanke der Nachhaltigkeit an und für sich bereits da. Dass noch die energetischen Massnahmen dazukommen, ist für mein Team und mich eine Selbstverständlichkeit.
Das Interview führte Andrea Eschbach, Journalistin, Zürich
«Der französische Philosoph Paul Valéry unterscheidet zwischen den zu verachtenden ‹stummen› Bauten, den achtenswerten ‹redenden› und den bewundernswürdigen ‹singenden› Bauten.»
Weitere Bilder und Infos über das Mehrfamilienhaus in Uerikon
Zusätzliche Bilder der Aussen- wie auch der Innenansicht finden Sie im Artikel «Tilla-Theus-Neubau in Uerikon überzeugt mit aussergewöhnlicher Gebäudehülle» unter diesem Link.
Über die Architektin und ihre Werke
Tilla Theus, geboren 4. Juni 1943 in Chur, studierte Architektur an der ETH in Zürich. 1969 gründete sie einen Tag nach Abschluss des Studiums ihr Architekturbüro in Zürich – und gewann kurz darauf den ersten Wettbewerb. Seit 1985 firmiert ihr Büro unter dem Namen Tilla Theus und Partner AG.
Spezialität sind der Umbau historischer Gebäude und das Bauen in komplexen städtebaulichen Strukturen. Dazu zählen das Hotel Widder (1985 – 1995) und das Swiss-Re-Headquarter (1996 – 2000) in Zürich, das Haus zum Rechberg (2012 – 2014) und die Bank Leuenhof (2017 – 2020) in Zürich.
Daneben realisierte das Büro Einzelbauten wie das FIFA-Headquarter (2003 – 2006) in Zürich oder das Gipfelrestaurant Weisshorn in Arosa (2006 – 2012).