In den Flusslandschaften Mitteleuropas gehörte das Klappern der Störche jahrhundertelang zum Sommer. Die Bestände gingen, wie die zahlreicher anderer Tierarten, dramatisch zurück, als der Mensch mit Entwässerungen, Flussbegradigungen und Gewässerkorrektionen begann. 90 Prozent der Schweizer Auengebiete gingen verloren. Hier fanden Störche einst reichlich Nahrung. 1949 war der Storch in der Schweiz ausgestorben. Das hatte man dann auch nicht gewollt.
Bald entstanden erste Wiederansiedlungsprogramme, das bekannteste davon befindet sich in Altreu (SO). Dort versuchte man die Wiederansiedlung mithilfe von Störchen, die man aus dem Elsass und später aus Algerien holte. Man fütterte ihnen zu und hielt Jungvögel anfangs in Gehegen zurück. So gingen sie nicht auf den gefährlichen Zug nach Afrika, sondern blieben im Winter hier. Die Bruten nahmen nur langsam zu. Erst in den 2010er-Jahren stiegen die Bestände deutlich. 2023 gab es schweizweit wieder 1744 Jungstörche, die von 961 Brutpaaren aufgezogen wurden. Allein 57 dieser Brutpaare hatten ihren Horst rund um Altreu.
Auf der Suche nach Staubwolken der Traktoren
Das ist ein Erfolg des Naturschutzes, der aber auf wackeligen Beinen steht, wie Biologe Lorenz Heer, der in der Nähe von Altreu aufwuchs, weiss. Er hat den aktuellen Wissensstand zum Storch in seinem soeben erschienenen Buch «Der Weissstorch» zusammengetragen. Lorenz Heer erklärt im Interview: «Der Storch hat sich als erstaunlich anpassungsfähig erwiesen. Die nahrungsreichen Auenlandschaften gibt es nicht mehr, und so hat er gelernt, im Segelflug nach den Staubwolken zu suchen, die die Traktoren bei der Feldbearbeitung aufwirbeln.» Manchmal sehe man Dutzende Störche, die seelenruhig den Maschinen übers Feld folgten und Würmer, Insektenlarven und Mäuse aufpickten, die von diesen nach oben geholt würden.
Wegen des langen Schnabels können sie die Beute nicht einfach schlucken. Sie packen sie stattdessen mit der Schnabelspitze und werfen sie sich mit einer Rückwärtsbewegung des Kopfes in den Schlund.
Wenn die Traktoren Ende Mai ihre Arbeit erledigt haben, folgen Störche gern dem Vieh auf der Weide und fressen die Insekten, die es durch seine Huftritte aufscheucht. «Bei der Mahd dagegen folgen sie nicht dem Traktor, sondern schreiten entlang des noch stehenden Grases, um dort die Insekten abzuernten», berichtet Heer.
Kaum Frösche auf dem Speiseplan
Störche sind auf Brachen, Feldsäume, Hecken, Nassstellen und Bäche angewiesen, um ausserhalb der Feldbearbeitungszeiten Nahrung zu finden. In hoch stehenden Raps- und Maisfeldern finden sie nichts. Sie jagen auch Wasserlebewesen und Fische, fressen Aas und sind auf dem Herbstzug und im Wintergebiet auf Mülldeponien zu Gange.
Das mit den Fröschen allerdings, die man mit dem Storch so gern in Verbindung bringt, scheint nicht mehr ganz zu stimmen. Lorenz Heer: «Der Storch frisst in der Schweiz wenig Amphibien. Unken und Kröten rührt er gar nicht an. Ich habe ihn in tausenden Nahrungsanalysen ein einziges Mal eine Amphibie fressen sehen.»
Die Hauptnahrung der Störche ist weniger spektakulär: «Regenwürmer machen in manchen Regionen bis zu 90 Prozent der Nahrung aus. Ihr Darmtrakt enthält viel Sand. Den müssen die Störche über Speiballen wieder auswürgen», erklärt der Zoologe.
Vor allem während der Brut ist reichlich Nahrung wichtig. Mäusejahre, in denen die Feldmaus massenhaft auftritt, sind stets auch Jahre mit hohem Bruterfolg bei den Störchen. Durch unsere heutige Kulturlandschaft träten diese eigentlich nicht mehr auf, ergänzt Heer. «Grosse Insekten sind selten geworden. Die Insektenbiomasse hat in den Wiesen um zwei Drittel abgenommen. So müssen die Störche mühsam kleine Käfer, Ameisen und Spinnen sammeln. Es dauert sehr lange, bis damit der Nährwert einer einzigen Maus erreicht ist.» Auswirkungen zeigen sich auch im Brutverhalten. «Vor einigen Jahrzehnten fand sich in den Nestern in Altreu im Schnitt ein Ei mehr als heute. Und das, obwohl Störche stets mehr Eier legen, als sie Junge aufziehen können.»
Zug nach Afrika wird seltener
Dennoch nimmt die Population zu. Wie kann das sein? Ganz einfach: Immer mehr Störche sparen sich dank der wärmeren Winter den kräfteraubenden Zug nach Afrika. Je nach Region ziehen sie sogar gar nicht mehr und trotzen wenn nötig, stoisch im Nest stehend, dem selten gewordenen Schnee. Sie können in solchen Fällen mehrere Wochen ohne Nahrung überdauern.
Lorenz Heer: «Im Winter 2022 blieben 733 Störche in der Schweiz, etwa die Hälfte aller Brutstörche. Andere ziehen beispielsweise nur nach Spanien, wo es noch viele offene Müllhalden gibt, in denen sie auch im Winter Nahrung finden.»
So sinkt die Sterblichkeit der Jungstörche, und die Gesamtzahl steigt. Störche, die in der Nähe ihres Brutortes bleiben, können zudem etwa vier Wochen früher mit der Brut beginnen. Heer erzählt: «Heuer wurde in Altreu das erste Storchenei am 10. März gelegt. Das ist ein Monat früher als noch vor einem Vierteljahrhundert.» Und wie lautet Heers Storchenprognose für das Jahr 2024? Ganz so viele Jungstörche wie im Vorjahr wird es nicht geben, denn infolge des vielen Regens starben einige Nestlinge. Übrigens – an den Störchen, die noch nach Afrika ziehen, lässt sich auch etwas anderes studieren: Sie sind, anders als man gerne glaubt, nicht etwa lebenslang demselben Partner treu. Es ist das Nest, das sie zusammenhält. Sitzt nach der Rückkehr ein fremdes Männchen im Nest, so stört dies das Weibchen nicht gross. Hauptsache, er verteidigt den Horst erfolgreich, bis es eintrifft.
Tipp
Es gibt Dutzende Webcams, mit denen Sie von zu Hause aus einen Blick in den Storchenhorst werfen können. Hier finden Sie eine Zusammenstellung:
Buch «Der Weissstorch»
Lorenz Heer
Der Weissstorch. Ein Zugvogel im Wandel,
erschienen 2024 im Haupt Verlag.
ISBN 978-3-258-08354-4
Fr. 40.80
Der Autor Lorenz Heer ist Biologe mit Fachgebiet Zoologie. Seine Doktorarbeit schrieb er über die Alpenbraunelle. Er wuchs in der Nachbargemeinde des Storchendorfes Altreu (SO) auf. So konnte er von klein auf Störche beobachten. Heute ist er Geschäftsführer von Pro Natura Bern. Für das Buch trug er den aktuellen Stand der Forschung zusammen.
Storchenprobleme im Elsass
Ein Dorf und drei Dutzend Nester: Weshalb dies für die Bewohner ein zweischneidiges Schwert ist.
Das hübsche elsässische Raedersdorf, einst ebenfalls Sitz einer Storchenwiederansiedelungsstation: Touristen reisen extra zum Fotografieren an, wenn auf Kirche, Riegelhäusern und Bäumen aberdutzende Storchenschnäbel klappern. Für die Raedersdorfer ist das Ganze mittlerweile zweischneidig. Knapp drei Dutzend Nester sind eine Menge für ein 500-Seelen-Dörfchen.
Wackeliger Grund, abstürzende Nester
Auf Autolack und den polierten Grabsteinen rund um die mit gleich vier Nestern gut besiedelte Kirche sorgt der aggressive Kot für Schäden, wenn er nicht umgehend entfernt wird. Die Dächer sind rund um die Nester grossflächig weiss statt ziegelrot. Während der Brutsaison bauen die Störche Jahr für Jahr weiter am Horst. Mit der Zeit erreichen diese bis zu 2 Meter Durchmesser und 2,5 Meter Höhe. Solch ein Prachtexemplar kann mehr als eine Tonne wiegen. Nicht jeder unfreiwillige «Baugrund» macht das mit. Nur mit ausdrücklicher Genehmigung darf ein solches Nest dann im Winter um einen Teil seines Gewichts reduziert werden.
Rund um Raedersdorf wurden in freier Natur Nistplattformen errichtet. Sie sind längst besetzt. Notgedrungen müssen noch horstlose Jungstörche ihr Glück als Bauherren an weniger geeigneten Stellen versuchen. Hausbesitzer greifen daher zur Selbsthilfe und basteln Stacheln und andere kreative Konstruktionen an die Kamine, um den Nestbau zu verhindern.