Wohnen

Alles aus Pappe

Möbeldesign Sie sind flexibel, nachhaltig und ästhetisch: Möbel aus Wellkarton. Kein Wunder sprechen sie nicht nur eine mobile und umweltbewusste Zielgruppe an, sondern erobern sich auch ihren Platz in der Einrichtungswelt von Designliebhabern.

von Silvia Schaub

Journalistin

Als Peter Raacke im Jahr 1966 in einem Studio der New Yorker Fernsehgesellschaft NBC seine Möbel präsentierte, staunte das Publikum Bauklötze. Was der deutsche Designer zeigte, waren nicht etwa Möbel aus Holz, sondern aus Karton. Ein absolutes Novum in der damaligen Zeit und von ihm provokativ als «Wegwerfmöbel» entwickelt. Denn die Vorteile lagen auf der Hand: Kartonmöbel haben geringe Fertigungskosten – und sind somit auch erschwinglich für die breite Masse. Inzwischen sind seine Stühle namens Otto zu einem Klassiker geworden, auch wenn sein Wunsch, dass «die Hausfrau meine Möbel wie Seife im Supermarkt an der Ecke erstehen kann», nicht ganz in Erfüllung ging.

Mittlerweile haben Kartonmöbel längst den Weg vom Wegwerfmöbel zum nachhaltigen Mobiliar, vom Provisorium zum vollwertigen Einrichtungsprodukt geschafft, das man am liebsten gar nicht mehr entsorgen möchte. Während anfangs vor allem Sitzmöglichkeiten aus Karton entstanden, kann man heute seine Wohnung rundum mit Papp-Möbeln einrichten – vom Bett übers Regal bis hin zum Schreibtisch und zur Beleuchtung. Mittlerweile sind die Möbel auch nicht mehr nur auf Brauntöne beschränkt.

Für Umweltbewusste, Mobile und Designliebhaber

Natürlich spricht das vor allem eine mobile und umweltbewusste Zielgruppe an. Aber nicht nur. Das hat auch damit zu tun, dass sich einige der weltbekanntesten Designer mit dem Verpackungsmaterial auseinandergesetzt haben. Denn Pappe ist weit robuster als angenommen und kann auch sonst mit einigen Vorteilen punkten. Kartonmöbel sind zum Beispiel ausgesprochen leicht, aber trotzdem sehr stabil, und sie lassen sich deshalb sehr flexibel einsetzen – wo eben gerade Bedarf dafür ist. Sollten sie einmal ausgedient haben, lassen sie sich oft einfach recyceln.

Mit der Serie «Easy Edges» für Vitra bewies Architekt und Designer Frank Owen Gehry schon früh, dass Kartonmöbel sehr wohl hochwertig sein können. Der «Wiggle Side Chair» und der «Wiggle Stool» sind schwungvolle, skulpturale Entwürfe, die auch Design-affine Menschen gerne in ihrem Wohnzimmer oder Büro aufstellen. Zur Serie zählt auch der Hocker «Wiggle», der an einen afrikanischen Hocker erinnert.

Ein wahrer Hingucker ist das Design-Sofa Flexible Love Earth plus des taiwanesischen Designers Chi-Shen Chiu. Es ist mit einer stabilen Wabenstruktur versehen, so dass das Öko-Sofa auch nach vielen Jahren des Gebrauchs in Form bleibt. Was das Möbel jedoch so speziell macht, ist seine Flexibilität. Je nachdem, ob man es zu zweit oder mit vielen Gästen benutzen möchte: Es lässt sich wie eine Ziehharmonika vom Zweisitzer in ein XXL-Sofa umwandeln.

Von der Kirche zu Kartonmöbeln

Noch einen Schritt weiter geht der Architekt Shigeru Ban. Er hat mit dem Material ganze Kirchen gebaut, wie etwa diejenige im neuseeländischen Christchurch. Sie dient als kostengünstiger Ersatz für die Kathedrale, die 2011 Opfer des schweren Erdbebens wurde. Inzwischen ist das Provisorium eine Touristenattraktion. Für Ban war der Weg zu Kartonmöbeln nicht mehr weit, weil das Material billig, leicht und fast überall erhältlich ist. Zudem betrachtet der Japaner das Mobiliar als Teil der Architektur. Schon in den neunziger Jahren gestaltete er Kartonmöbel für den Eigengebrauch. Als der Schweizer Möbelproduzent WB Form auf ihn zukam, entstand die Kollektion «Carta Collection». Sie besteht unter anderem aus einer Sitzbank, einem Stuhl sowie einer Chaiselongue. Die dünnen, aneinander gereihten Kartonröhren und feinen Gestelle aus Birkensperrholz geben den Möbeln einen filigranen und doch ungewöhnlichen Charakter. Wider Erwarten liegt und sitzt es sich absolut bequem darauf.

Auch die Stühle Elettra von Kubedesign oder die X2Chair-Liege des italienischen Designers Giorgio Caporaso sind ein Blickfang. Man muss zweimal hinblicken, bis man erkennt, dass sie aus Karton bestehen. Beim Tavolo Clessidra spielt Caporaso mit der formschönen Ringstruktur. Wer nun befürchtet, der Tisch könnte beim leichtesten Anstossen kippen, kann beruhigt sein. Er steht nämlich auf einem Holzfuss, und die Platte kann je nach Wunsch aus Glas oder Holz sein.

Was die Designer am Material Karton so fasziniert, sind die verschiedenen Konstruktionsarten: Es gibt Panels, die mit Spanplatten vergleichbar sind. Man kann auch mehrere Kartonschichten zusammenkleben, oder man verwendet besondere Falt- und Stecktechniken. So sind sogar Konstruktionen möglich, die mit anderen Materialien nur schwer umzusetzen sind. Das betrifft auch die Leuchten von Graypants, die neben ihrem schlichten Design vor allem durch den Zauber der unzähligen Lichtpunkte begeistern. Entwickelt wurde das Prinzip von zwei jungen US-Designern aus Seattle. Nach Europa gebracht hat die Lampen aber Wouter Smit aus den Niederlanden. Heute werden sie auch dort für den europäischen Markt produziert. Ein speziell entwickelter Laser brennt die halbmondförmigen Bögen aus den Kartonteilen. Danach ist alles Handarbeit, was jede Lampe zu einem Unikat macht. So wird jedes Stück auf dem Steg der Birnenfassung handschriftlich vom Mitarbeiter signiert. Mit dem wohnlich-angenehmen und doch funktionalen Licht bringen die Graypants-Leuchten eine stimmungsvolle, behagliche Atmosphäre in den Raum.

Recycled, umweltfreundlich und vegan

Bei den Firmengründern von Room In A Box aus Deutschland stand das Thema Nachhaltigkeit seit jeher im Zentrum. Das beginnt bei der Wahl des Werkstoffs – sie verwenden eine Wellpappe, die aus mindestens 70 Prozent Recyclingmaterial und aus 30 Prozent Frischfasern besteht – und geht weiter zum Klebestoff aus veganem Stärkeleim bis zu umweltfreundlichen Druckfarben auf Wasserbasis und möglichst kurzen Transportwegen. Das Design ihrer Produkte ist geradlinig, sachlich in seiner Ästhetik und funktionell im Einsatz, wie etwa das Bett, das sich einfach zusammenstecken lässt, aber dennoch über eine gute Stabilität verfügt.

Prägend für den Karton-Möbel-Boom ist das deutsch-kanadische Design-Büro Nordwerk nicht allein seiner formschönen Objekte wegen. Das Unternehmen möchte noch in anderer Hinsicht aktiv einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten. Deshalb stellt es etwa die Baupläne für den Sessel MC302, einem seiner erfolgreichsten Möbel, kostenlos im Internet zur Verfügung. Damit möglichst viele Nachahmer gefunden werden, die das nachhaltige Material verwenden.