Wohnen für Hilfe

Studentin profitiert von Seniorin, und umgekehrt

Seniorin Margrith Huber aus Pfäffikon ZH und Studentin Kaja Hansen bilden seit September 2021 eine Wohnpartnerschaft. Wie diese zustande gekommen ist, fragen Sie sich jetzt vielleicht? Lesen Sie unsere Reportage!

von Isabelle Wachter

Journalistin, Zürich

Es ist ein kalter, nebelverhangener Novembertag, als Margrith Huber die Tür zu ihrer geräumigen und gemütlichen Wohnung in Pfäffikon ZH öffnet. Sofort fühlt man sich zu Hause. Die Wohnung ist hell und verfügt über eine Fensterfront, vor der sich eine grosse Terrasse mit Weitblick ins Grüne befindet. Das Wohnzimmer ist mit stilvollen Bildern und Blumen ausgestattet. Ein grosser, weiss gedeckter Tisch lädt zum Verweilen bei Kaffee und Kuchen ein. Was ebenfalls auffällt: die vielen Bücher. Vom vollständigen Brockhaus-Nachschlagewerk über die Duden-Sammlung bis hin zur Belletristik findet man in der Wohnung fast alles. «Mein Mann war Direktor bei den Juventus-Schulen in Zürich. Ich habe zu Hause für die Kinder und den Haushalt gesorgt. Wir beide haben immer viel und gerne gelesen», erzählt Margrith Huber, in Erinnerungen schwelgend. Ihr Mann ist vor fünf Jahren verstorben. Seither lebt die 85-jährige Frau allein in der grossen Wohnung. Sie erhalte zwar viel Hilfe und häufig Besuch von ihren drei Kindern und ihren neun Enkelkindern. Aber auch sie hätten ihr eigenes Leben und seien berufstätig. Das sei auch ganz in Ordnung so. «Ich habe mich vor eineinhalb Jahren für eine Neubau-Alterswohnung in Pfäffikon ZH angemeldet. Aber als ich erfahren habe, dass bei dieser Wohnung Services für Mahlzeiten und Putzen in der Miete enthalten sind, hat mich das abgeschreckt. Schliesslich koche ich gern. Für mich ist das eine kreative Tätigkeit, die mir hilft, meine Agilität zu behalten.» Das brachte Margrith Huber auf die Idee, sich für das generationenverbindende Wohnmodell «Wohnen für Hilfe» anzumelden.

Vom Video zum Probewohnen

Andrea Ziegler ist Sozialberaterin bei Pro Senectute Kanton Zürich und für «Wohnen für Hilfe» zuständig. Sie besucht interessierte Seniorinnen und Senioren persönlich und klärt ab, ob eine Wohnpartnerschaft die richtige Lösung für die individuellen Bedürfnisse ist. Aufgrund der hohen Nachfrage wird sie dabei von drei Freiwilligen unterstützt. «Manchmal stellt sich im persönlichen Gespräch heraus, dass der Umzug in eine Alterswohnung doch zielführender ist als eine Wohnpartnerschaft. Das erfordert viel Fingerspitzengefühl», sagt Andrea Ziegler. Kommt eine Wohnpartnerschaft infrage, bespricht sie mit der Seniorin oder dem Senior die konkreten Bedürfnisse. Diese können sehr unterschiedlich sein. Während sich die einen Unterstützung beim Kochen und Einkaufen wünschen, benötigen andere eher Hilfe beim Putzen oder im Garten. «Bei Wohnen für Hilfe steht die Seniorin oder der Senior im Zentrum. Es ist nicht das primäre Ziel, günstigen Wohnraum für Studierende anzubieten. Aber wenn ein Wohnpaar zusammen gut harmoniert, dann ist es natürlich eine Win-win-Situation», so Andrea Ziegler.

Interessierte Studierende reichen einen Fragebogen bei Pro Senectute Kanton Zürich ein. Findet sich eine interessierte Seniorin oder ein interessierter Senior, schickt Andrea Ziegler den Studierenden Fotos von der Person und der Wohnung. Kommt für beide Seiten eine Wohnpartnerschaft infrage, organisiert Andrea Ziegler zuerst ein Treffen und auf Wunsch auch ein Probewohnen. Bei Studierenden aus dem Ausland verlangt Andrea Ziegler ein Video, in dem sie sich vorstellen, und organisiert ein erstes Kennenlernen via Online-Meeting. So lief das auch im Falle von Margrith Huber und Studentin Kaja Hansen aus Hamburg. Kaja ist 19 Jahre alt und studiert im ersten Semester Maschinenbau an der ETH in Zürich. Sie ist auf ein günstiges Zimmer angewiesen, und als sie Kollegen im Freiwilligenjahr auf «Wohnen für Hilfe» aufmerksam machten, war sie sofort begeistert. «Ich bin mit meiner Mutter und meiner Grossmutter bereits in einem Mehrgenerationenhaushalt aufgewachsen und habe das immer als Bereicherung empfunden», erzählt die aufgeweckte Studentin.

Impulse einer anderen Generation

Bei Margrith Huber zu wohnen, gebe ihr einen guten Einblick in die Schweizer Kultur, sagt Kaja. «Margrith integriert mich sehr in ihre Familie. Nächste Woche hat ihr Sohn Geburtstag, und er hat mich zum Fondue-Essen gleich mit eingeladen», erzählt sie mit einem Lachen auf dem Gesicht. Auch Margrith Huber empfindet die Wohnpartnerschaft als persönliche Bereicherung. «Durch Kaja und meine Enkelkinder erfahre ich trotz fortgeschrittenen Alters, was jetzt gerade in Mode ist und welche neuen Technologien es gibt. Es macht mich offener und toleranter.» Doch manchmal seien die Generationenunterschiede auch anspruchsvoll. «Die jungen Leute sind permanent am Handy und haben die Kopfhörer auf – sogar beim Kochen», stellt Margrith Huber augenzwinkernd fest. Manchmal sei sie unsicher, was sie Kaja alles sagen könne. Man wolle ja nicht allzu grossmütterlich auftreten. Schliesslich sei es eine Beziehung auf der Erwachsenenebene. «Das ist alles ganz normal in der Anfangsphase», meint Andrea Ziegler dazu. «Es braucht eben seine Zeit, bis sich so eine Wohnpartnerschaft eingependelt hat. Und dazu gehören auch Konflikte.» Bis jetzt scheint es bei Margrith Huber und Kaja Hansen aber gut zu harmonieren. Manchmal setzen sie sich an den grossen Tisch und reden ein paar Worte miteinander. Gemeinsame Essen sind aber eher rar. Denn häufig fährt Kaja morgens früh nach Zürich an die ETH und kommt erst spätabends wieder nach Hause. Aber am Wochenende hilft sie beim Putzen. Gemäss dem zehn Quadratmeter grossen Zimmer hat Margrith Huber zehn Arbeitsstunden pro Monat bei Kaja zugute. «Bis jetzt waren es weniger. Sie hat wirklich viel zu tun an der ETH. Das erste Jahr ist sehr streng. Da habe ich Verständnis. Aber in den Semesterferien kannst du dann die Fenster und die Küchenregale putzen», sagt Margrith Huber lachend. «Ich kann das davor schon mal machen. Du kannst mir ruhig mehr Aufträge erteilen», entgegnet Kaja eilig.

 

«Ich bin schon in einem Mehrgenerationenhaushalt aufgewachsen und habe das als Bereicherung empfunden.»

Kaja Hansen

Dossier «Wohnen heute & morgen»

Erfahren Sie in unserer Artikelserie «Wohnen heute & morgen» mehr über aussergewöhnliche Wohnformen und neue Formen des Zusammenlebens für Jung und Alt. Im ersten Teil der Serie ging es um Co-Living

«Durch Kaja und meine Enkelkinder erfahre ich trotz fortgeschrittenen Alters, was in Mode ist.»

Margrith Huber

Wohnmodell «Wohnen für Hilfe»

Die Stiftung Pro Senectute Kanton Zürich bietet das generationenübergreifende Wohnmodell «Wohnen für Hilfe» an. Sie vermittelt Studierende an Seniorinnen und Senioren, deren Wohnung oder Haus für sie allein zu gross geworden ist. Die Studierenden bezahlen keine Miete für ihr Zimmer, unterstützen dafür aber pro gemietetem Quadratmeter eine Stunde pro Monat im Haushalt. Pro Senectute Kanton Zürich bietet das generationenübergreifende Wohnmodell «Wohnen für Hilfe» als einzige Pro-Senectute-Organisation in der Schweiz an. Das Angebot ist nur dank grosszügiger Spenden möglich. Die Stiftung verlangt für die Vermittlung der Partnerschaften eine Gebühr von 300 Franken (exkl. MWST). Damit kann der Aufwand für die Vermittlungen jedoch bei Weitem nicht gedeckt werden. Bis eine Wohnpartnerschaft zustande kommt, ist eine individuelle Bedürfnisabklärung bei der Seniorin oder dem Senior, aber auch bei den Studierenden nötig. Zudem ist Pro Senectute Kanton Zürich auch Anlaufstelle für Administratives und bei Problemen. Für das generationenverbindende Wohnmodell wurde ein spezieller Vertrag ausgearbeitet. Denn Schwarzarbeit möchte man auf keinen Fall fördern. Die Studierenden müssen eine Unfall- und Krankenversicherung haben. Zudem ist eine Betriebshaftplicht-Versicherung integriert. Die Stiftung benevol aus St. Gallen bietet das gleiche Modell an. Es heisst «beneWohnen» und ist in Zusammenarbeit mit der Stadt St. Gallen und den St. Galler Universitäten und Hochschulen entstanden. Auch in Deutschland und Österreich gibt es vergleichbare Angebote.

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