Möbel aus dem Kompost? Wieso nicht? «Wir sehen die Schönheit in den Stücken der Natur, die Menschen Abfall nennen», sagen die Macherinnen und Macher des Ottan Studios aus Istanbul. Sie entwerfen und produzieren ihre farbenfrohen, nachhaltigen Möbel, Objekte oder Beleuchtungen aus Kompostabfall, wie zum Beispiel Obstschalen, abgelaufenem Getreide oder anderen pflanzlichen Resten. Zuerst werden die Abfälle gereinigt, getrocknet und gemahlen, danach mit grünen Harzen vermischt und in die gewünschte Form gespritzt. Das Ziel des innovativen Unternehmens ist es zu zeigen, dass man alles aus der Natur erschaffen kann, ohne sie zu missbrauchen.
Unsere Lebensmittelabfallberge werden jedes Jahr grösser. Wenig erstaunlich also, dass sich Start-ups und Forschungsteams mit dieser Thematik auseinandersetzen und nicht nur überlegen, wie man diese vermeiden, sondern auch wie man sie weiterverwerten könnte. Nachhaltigkeit und Ressourcenschonung sind längst in der Designwelt angekommen. Dabei schliessen sich schönes Design und ein akzeptabler Preis längst nicht mehr aus.
Mehr als nur biologisch abbaubar
«Seit rund zehn Jahren wird deutlich die Dringlichkeit erkannt, Werkstoffe von der Gewinnung bis zur Entsorgung zu beurteilen», betont Franziska Müller-Reissmann, die bei der Zürcher Hochschule der Künste das Materialarchiv leitet. Damit würden die verwendeten Werkstoffe noch viel stärker in den Fokus rücken. «Heute hat ein Entwurf keine Chance mehr auf Beachtung, wenn sich die Entwickler nicht elementar mit den verwendeten Materialien auseinandersetzen.» Allein mit «biologisch abbaubar» könne man heute nicht mehr punkten.
Grosse Themen sind hier rezyklierte Materialien, wie sie das Ottan Studio aufbereitet und verwendet. Produkte aus PET haben sich bereits etabliert, werden aber immer raffinierter. Die Marke Pentatonic aus Berlin verarbeitet alte PET-Flaschen zu formschönen Stuhl- und Tischkollektionen. Der Hersteller Connubia verwendet bei seinem Modell «Reef» für den Bezug Plastikabfälle aus dem Meer und für die Polsterung ausgediente Matratzen und gebrauchte Polyesterbehälter. Soeben am Salone del Mobile in Mailand präsentierte Kartell in Zusammenarbeit mit illy Caffè den Stuhl «Re-Chair» aus ausgemusterten Kaffeekapseln. Diese Kapseln bilden auch die Beine des Stuhls «Eleganza Missoni», ebenfalls von Kartell.
Immer mehr Bedeutung bekommen auch Materialien aus Reststoffen oder industriellen Nebenprodukten, wie zum Beispiel Tierblut, ein Material, das in grossen Mengen anfällt, aber nur zu einem kleinen Teil sinnvoll wiederverwendet wird. «Eigentlich ein Tabu-Material», sagt Franziska Müller-Reissmann. Dabei hat es eine lange Tradition, wurde es schon bei den Ägyptern und Römern als Bindemittel eingesetzt und war noch bis kurz vor dem 2. Weltkrieg als Blutalbuminleim auch bei uns im Handel erhältlich. Wird Tierblutmehl unter grosser Hitze und mehreren Tonnen Druck gepresst, entsteht ein Biopolymer, ein sehr fester Kunststoff. Im richtigen Kontext könne das tabuisierte Material zum wertvollen Werkstoff werden, ist Designerin Leonor Kotoun überzeugt. Sie hat sich mit dem Projekt «Radical Matter» intensiv damit auseinandergesetzt und eine Reihe von Experimenten und Recherchen zu Tierblut als Material im Design befasst. Noch aber ist das Zukunftsmusik.
Schon weiter ist man mit Leder-Alternativen. So wird aus Blättern, die bei der Ananasernte übrig bleiben, sogenanntes Piñatex hergestellt. Das Ananasleder wurde vom Start-up-Unternehmen Ananas Anam von Carmen Hijosa entwickelt und wird schon vielfältig für Möbel wie auch für Handtaschen eingesetzt. Der französische Designer Philippe Starck hat für Cassina eine Möbelkollektion aus dem pflanzlichen Material «Apple Ten Lork» entworfen. Der Stoff wird ebenfalls als vegane Alternative zu Leder verwendet und besteht aus einem industriellen Abfallprodukt aus Apfelkernen und -häuten.
Auch nachwachsende Nutzpflanzen bieten ein grosses Potenzial. Allerdings nur solange sie nicht zu viel Fläche brauchen und nicht in Monokulturen wachsen, gibt Materialexpertin Müller-Reissmann zu bedenken. «Denn das wäre nicht ökologisch und würde die Biodiversität einschränken.» So erlebt eine der ältesten Nutzpflanzen gerade ein Comeback: Hanf. Im Anbau ist Hanf recht anspruchslos, und seine langen, robusten Fasern sind vielseitig einsetzbar. Da sie relativ wenig Flüssigkeit brauchen, haben Hanffasern einen grossen Vorteil gegenüber anderen nachwachsenden Pflanzen. Die Teppichkollektion «Tres Vegetal» des spanischen Labels nanimarquina überzeugt mit einer schönen Struktur in dezenten Beige- und Brauntönen, passend für einen gemütlichen, naturnahen Einrichtungsstil. Die Sitzschalen der «Hemp»-Stühle des niederländischen Möbelherstellers Vepa bestehen komplett aus Hanffasern und einem pflanzlichen Harz, das formbar ist.
Ein noch grösseres Potenzial sieht die Materialexpertin der ZHdK bei Algen oder Pilzen. Besonders Algen liessen sich – zwar energieaufwendig – gut züchten, ohne dass dabei Landflächen benötigt werden. Hinzu kommt, dass sie überschüssiges CO₂ abbauen und deshalb neben dem tropischen Regenwald die zweite «grüne Lunge» unseres Planeten sind. Aus Algen können für die Möbelproduktion Textilien, Schaumstoffe, Leder oder plastikartige Materialien produziert werden. Die dänischen Designer Jonas Edvard und Nikolaj Steenfatt experimentieren schon seit einigen Jahren mit diesem natürlichen Rohstoff. Mit der Kollektion «Terroir» kreieren sie Lampen und Stühle aus Algen. Auch David Thulstrup hat für seine Kollektion «Momentum» für Søuld damit gearbeitet.
Pilze überall
Was ursprünglich von der Mode- auf die Automobilindustrie übergesprungen ist, hat nun auch die Möbelwelt erreicht: Werkstoffe auf der Basis von Pilzen oder vielmehr von Myzelen, also der Wurzelstruktur von Pilzen. Ihr Vorteil: Man impft Werkstoffe damit und lässt sie so wachsen. Das verzweigte Pilzgeflecht ernährt sich von Hanf, Holzspänen oder Getreide und verwächst sich mit den Bioresten. Das kalifornische Biotechunternehmen MycoWorks entwickelte das Material Reishi, das feinstem Leder haptisch wie optisch in nichts nachsteht. So hat die französische Traditionsmarke Ligne Roset Ende letzten Jahres eine Kooperation mit der Lederalternative Reishi angekündigt.
Designerin Danielle Trofe nutzt nicht einfach Werkstoffe aus Pilzmyzelen, sie lässt den Pilz in Lampenschirmform wachsen. Dazu mischt sie Getreidehalme oder Schalen von Getreidekörnern, so dass die Leuchtkörper eine unregelmässige Struktur erhalten. Nach einigen Tagen lässt sich der Pilz durch Erhitzen und Trocknen abtöten – und fertig ist der Lampenschirm. Braucht man ihn irgendwann nicht mehr, kann er einfach kompostiert werden.
Was bei vielen der Produkte mit neuen, innovativen Materialien hinsichtlich einer nachhaltigen Produktion auffällt, ist ihre raue, natürliche Optik. Das mag gefallen oder nicht. Wie Franziska Müller-Reissmann aber feststellt, verschiebe sich gerade die Ästhetik sehr stark. «Vielleicht ist es auch an der Zeit, dass wir uns von gewissen ‹perfekten› Materialeigenschaften verabschieden.»