Blatterwiese in Zürich, beim Zürihorn. Es ist früh. Sieben Uhr morgens. Ein Lüftchen weht. Zwei Männer in neongelber Arbeitskleidung, Helm und sportlicher Sonnenbrille sperren den Platz um die gigantischen Pappeln an der Seepromenade ab. Dahinter glitzert der Zürichsee. Eine Frau im Badeoutfit will über die Absperrung klettern. «Sie können hier nicht baden.» Baumpfleger Markus Richter spricht die Frau direkt an. «Hier wird es in ein paar Minuten gefährlich für Sie», fährt er fort und erklärt: « 30-Kilo-Äste werden hier herunterfallen, und Ihre Sicherheit ist nicht gewährleistet.» Die Frau entfernt sich nur widerwillig.
Markus Richter und Florian Grischott sind Geschäftspartner von Ginkgo Baumpflege. Sie kommen aus dem Raum Kreuzlingen und Winterthur. Bäume kennen sie wie ihre eigene Westentasche und auf diese zu klettern, ist ihr tägliches Business. Beide sind eidgenössisch diplomierte Baumpfleger. Die Seilklettertechnik beherrschen sie einwandfrei. Was die Sicherheit rund um den Baum anbelange, sei diese genauso wichtig, wie die Baumpflege selbst, erklärt Markus. «Arbeite ich auf dem Baum und der Ast fällt herunter, liegt es in meiner Verantwortung, dass die Menschen auf dem Boden nicht verletzt werden.»
Der heutige Auftrag lautet: Die Verkehrssicherheit bei der alten Kanadischen Pappel wieder herstellen. Die Pappel ist 85 Jahre alt und ziemlich hoch, fast 35 Meter. Pappeln hätten die Eigenheit, sehr schnell zu wachsen, vor allem in Wassernähe. Der Nachteil hierbei sei, dass die Stabilität auf der Strecke bleibe, erklärt Markus und zeigt auf eine etwas chaotisch gewachsene Baumkrone. «Wir werden jetzt die exponierten Äste entlasten und das tote Holz aus der Krone entfernen – ihr sozusagen einen Baumkronen-Feinschliff verpassen», erklärt er, «somit reduzieren wir das Sicherheitsrisiko drastisch.» Denn bei starkem Wind, Sturm oder bei viel Schnee könnten aus der Pappel Äste unkontrolliert auf Passanten fallen.
Null Nervenkitzel
Beim Blick von unten in die Baumkrone schlottern so manchem die Knie. Die gigantische Höhe lässt die Baumprofis jedoch kalt: «Nervenkitzel habe ich schon lange nicht mehr, da bin ich zu routiniert», gesteht Markus. Mit seinen 35 Jahren ist er schon viele Bäume hochgeklettert. Der höchste Baum sei 45 Meter hoch gewesen, ein Mammutbaum. Die Faszination Bäume ist den beiden schnell anzumerken: «Bäume haben etwas Imposantes, ohne die Bäume wäre es hier auf der Blatterwiese viel zu heiss. Bäume spenden Schatten und sorgen für ein kühles Klima, wie eine Klimaanlage», sagt Markus. Auch privat lebe er mit ganz vielen Bäumen um sich herum. Er habe Birken, Platanen, viele Obstbäume und auch eine Pappel im Garten. Sein Kollege Florian hat sich seinen Lieblingsbaum, einen Urweltmammutbaum, hingegen auf den Unterarm tätowiert. Was denn ihr Credo in der Baumpflege sei? «Bäume so lange wie möglich nicht zu fällen, sondern eben zu pflegen», sagt Markus. «Auch wenn der Baum eine Schadstelle aufweist, kann dieser noch Jahre, Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte lang leben – je nach Baumart.» Die Kanadische Pappel hier lebe sicher noch bis sie 150 oder sogar 200 Jahre alt sei.
Jetzt wird es aber steil
Und wie kommt man jetzt auf den Baum? Mit einer Hubarbeitsbühne? Nein, dies sei keine Option: zu teuer und zu unpraktisch, um an den Baum zu kommen. «Hochklettern», sagt Kollege Florian und zeigt auf den Klettergurt mit den vielen Karabinern und das Klemmgerät, sowie auf die Kletterseile auf dem Boden. «Am Aufstiegsseil, das an einer Astgabel hängt, können wir steil in die Baumkrone klettern», sagt der 25-jährige Baumprofi.
Und wie kommt das Seil in den Baum? Dafür benutzt Markus die Big-Shot – eine Steinschleuder, die deutlich grösser ist als er selbst. Er geht in die Knie, zielt und schiesst. Ein Bleigewicht, an einer dünnen Schnur befestigt, saust in das Geäst. «Wir brauchen jetzt eine stabile Astgabel. Über diese ziehen wir dann das Aufstiegsseil hoch.» Markus hat getroffen, das Seil kann an der Schnur über die Astgabel hochgezogen werden. «Hält es?» Die beiden Baumpfleger machen den Stabilitätstest. Zu zweit hängen sie sich an das Kletterseil. «Kracht die Astgabel unter unserem Gewicht nicht zusammen, ist die Stabilität für eine Person zu hundert Prozent gewährleistet.»
Ganz leicht am Seil
Als Erster geht Florian in die Baumkrone. Nicht etwa mit einer Motorsäge, sondern mit einer leichten Handsäge. Baumpflege sei keine laute Arbeit – Motorsägen kämen nicht so oft zum Einsatz, eher beim Baumfällen, sagt Markus. Florian hat sich inzwischen am Seil eingeklinkt und lässt sich für den Aufstieg von einem viereckigen Motörchen, einem elektrischen Seil-Lift, hochziehen. Dies sei eine präventive Massnahme, um seine körperliche Abnutzung nicht überzustrapazieren. Die elektrische Winde surrt, und ein paar Sekunden später ist Florian schon in der Baumkrone verschwunden. Markus kommentiert, sein Kollege werde jetzt oben sein zweites Kletterseil, das Arbeitsseil, befestigen. «Am Arbeitsseil sind wir permanent gesichert. Unser Gewicht hängt im Ankerpunkt, somit ist die Gewichtsbelastung auf den Ästen minimal und wir können uns auch auf dünnen Ästen bewegen, ohne dass diese abbrechen», sagt er. Zusätzlich hätten sie noch eine Kurzsicherung, um Ausrutscher oder Seilrisse abzufangen.
Vereinzelte Passanten verfolgen das Spektakel neugierig: «Bewegt sich da etwa ein Mensch im Baum?», fragt sich einer. Währenddessen rennt sein Hund fröhlich den heruntergefallenen Ästen hinterher, direkt in die verbotene Sperrzone. Doch auch für den Vierbeiner gilt das Verbot. Bei Sicherheitsangelegenheiten seien sie sehr strikt, sagt Markus. Zusätzlich passe heute auch noch eine Drittperson am Boden auf. In Zürich hätte es immer viele Leute, die in die Absperrung laufen könnten.
Ausbeute: 1,5 Tonnen Äste
Zwischenzeitlich schwingt sich Florian von Ast zu Ast, klettert mit den Füssen in Schlaufen eingehakt, wie auf Treppen, mal am Seil nach oben oder wieder nach unten. Ein Auf und Ab und Hin und Her. Sein Fortbewegungsstil: eine Kombination aus aufwendiger Beinarbeit, gespanntem Kletterseil und viel Schwung. Manchmal wagt er sich sogar ganz weit in die Äste hinaus. Was für die Zuschauer fast schon einer Zirkusakrobatik gleicht, ist für Florian reine Routine. Konsequent sägt er einen Ast nach dem anderen ab. Die langen Äste fallen mit einem dumpfen, aber wuchtigen Aufprall auf den Boden. Zum Glück steht da keiner. «Pause!», ruft Markus nach zwei Stunden in den Baum hoch. Flink seilt sich Florian ab. Als kleine Showeinlage dreht er sich einmal kopfüber am Seil. Sein Gesicht leuchtet. «Genial, ich bin zufrieden mit dem Baum und meiner Arbeit», sagt er, während er inmitten buschiger Äste steht.
Und der Baum zu Hause?
In der Pause gibt es selbst gebrauten Kaffee vom Gaskocher. Und es bleibt noch Zeit für ein paar Baum-Tipps: Der Baumeigentümer sei beispielsweise selbst dafür verantwortlich, dass der Baum keine Gefahr für Personen oder Sachen darstelle, also dass dieser nicht umstürze oder eben die Äste abfallen. Was Bäume betreffe, gäbe es auch Rechtliches zu beachten. «Im Zweifelsfall lohnt es sich, einen Baumexperten zu Rate zu ziehen», rät Markus. Und was er schon immer sagen wollte: Bäume könne man eigentlich ganzjährig schneiden – nicht nur im Winter, wie es ein hartnäckiger Mythos besagt.
Die Pause ist vorbei. Markus und Florian verschwinden im Baum. Bis zur Mittagszeit werden sie rund 1,5 Tonnen Äste abgeschnitten haben. Der Badeplatz ist wieder sicher.
Isabelle Piccand, Redaktorin HEV Schweiz
Seilklettertechnik (SKT)
Die Seilklettertechnik (SKT) ist eine spezielle Methode der Baumpflege, um sicher in Baumkronen zu arbeiten. Die Technik ist schonend für Bäume und macht alle Bereiche im Baum zugänglich. Der Baumkletterer nutzt ein Aufstiegsseil, das über eine Astgabel im Baum befestigt ist. Mit einer speziellen Klettertechnik zieht sich der Kletterer mittels Beinarbeit Schritt für Schritt nach oben. Die Kniesteigklemme mit Fussschlaufe sorgt unter anderem dafür, dass der Kletterer schrittweise, wie beim Treppensteigen, nach oben klettern kann. Dies entlastet die Arme und ist auch relativ effizient.
Ginkgo-Baumpflege
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