Interview

Vintage-Möbel: Wenn Altes daheim für frischen Wind sorgt

Trend Vintage-Möbel Ab welchem Alter ein Möbelstück als «Vintage» gilt, und warum sich der Kauf von gebrauchten Möbeln positiv auf die Nachhaltigkeit auswirkt, erklärt Konsumforscher Dr. Gianluca Scheidegger vom Gottlieb Duttweiler Institut im Interview.

Der Schweizerische Hauseigentümer: Herr Dr. Scheidegger, Vintage-Möbel liegen im Trend. Welche gesellschaftlichen und ökologischen Faktoren haben dazu beigetragen?

Dr. Gianluca Scheidegger: Der Trend zu Vintage-Möbeln wird durch eine Vielzahl von Faktoren beeinflusst. Vorab muss jedoch gesagt werden, dass es sich dabei um kein komplett neuartiges Phänomen handelt. Seit Längerem richtet nur eine Minderheit ihr Zuhause komplett mit neu gekauften Möbeln ein. Bereits vor zehn Jahren betrug dieser Anteil lediglich 12 Prozent. In der jüngsten Zeit sind es vor allem das wachsende Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Preise, der Wunsch nach Individualität und einzigartigem Design, ein gut funktionierender Secondhand-Markt sowie Lieferengpässe, die diesen Trend weiter vorangetrieben haben.

Viele Menschen in der Schweiz möchten bereits produzierte, funktionsfähige Produkte länger nutzen oder beschädigte Gegenstände reparieren lassen, anstatt sich neue Produkte zu kaufen. Das schont zum einen ihr eigenes Portemonnaie und zum anderen die Umwelt. Das Bedürfnis, sich von der Massenproduktion abzuheben und den eigenen vier Wänden einen persönlichen Touch zu verleihen, spielt in vielen Haushalten ebenfalls eine wichtige Rolle. Insbesondere seit der Corona-Pandemie, als man sich vermehrt zu Hause aufgehalten hat und dies teilweise noch immer tut – beispielsweise durch vermehrtes Arbeiten im Homeoffice.

Hinzu kommt: Heute ist es so einfach wie nie, gebrauchte Möbel zu kaufen und zu verkaufen. Wo man früher noch diverse Brockis, Flohmärkte oder Antiquitätenhändler nach dem passenden Möbelstück durchforsten musste, findet man heute online eine schier endlose Auswahl an Vintage-Möbeln. Tendenz steigend: Fand man z. B. im August 2014 auf tutti.ch, einer beliebten Wiederverkaufsplattform, noch 20 000 Möbelinserate, sind es heute, zehn Jahre später, 173 000. Ein Anstieg von 765 %!

Konsumenten sind ungeduldig. Entsteht ein Bedürfnis, wollen sie es direkt gedeckt haben. So auch beim Möbelkauf. Jüngste Störungen in globalen Lieferketten haben vielerorts zu sehr langen Lieferzeiten beim Kauf von Möbeln geführt, und dies ist teilweise noch immer der Fall. Dieser Umstand hat viele Käuferinnen und Käufer dazu bewegt, auf Secondhand-Märkten einzukaufen. Dort sind die Möbel sofort verfügbar.

Sind Vintage-Möbel ein vorübergehender Hype – oder werden sie sich langfristig etablieren?

Aufgrund der vielen verschiedenen Faktoren, die die Beliebtheit von Vintage-Möbeln begünstigen, gehe ich davon aus, dass es sich um keinen kurzfristigen Hype handelt. Zum Problem werden kann in Zukunft jedoch die abnehmende Verfügbarkeit von Vintage-Möbeln. Fast schon als Gegentrend nehmen in den vergangenen Jahren auch die Verkäufe sehr günstig produzierter Möbel zu. Sogenanntes «Fast Interior» eignet sich durch die schlechte Qualität fast nicht für den Wiederverkauf. Das meiste landet nach ein paar Jahren bereits wieder auf dem Müll: Siedlungsabfälle pro Kopf und Jahr sind in der Schweiz von 525 kg (im Jahr 1985) auf 704 kg (im Jahr 2020) angestiegen. Alte Möbel, Einrichtungsgegenstände und Matratzen fliessen in diese Statistik mit ein. Die USA, die Abfälle aus Möbeln und Einrichtungsgegenständen separat aufführen, zeigen eine Vervielfachung der Möbelabfälle im Siedlungsabfall zwischen 1960 (total 2 150 000 kg) und 2018 (12 080 000 kg).

Welche Rolle spielt das Nachhaltigkeitsbewusstsein bei Leuten, die Vintage-Möbel kaufen?

Für Konsumentinnen und Konsumenten mit hohem Nachhaltigkeitsbewusstsein bieten Vintage-Möbel eine attraktive Alternative zum Neukauf. Erstens entfällt die Notwendigkeit, ein neues Möbelstück zu produzieren, was Ressourcen schont. Zweitens sind minderwertige Produkte meist aus Materialien hergestellt, die belastender sind für die Umwelt als natürliche Materialien. So werden in Spanplatten, verglichen mit Massivholz, teilweise Bindemittel verwendet, die umweltschädlich sind. Drittens sind Vintage-Möbel in der Regel langlebiger als massenproduzierte Stücke. Etwa 20 Jahre muss sich ein Möbelstück nämlich bewährt haben, um als «Vintage» zu gelten. Gemäss Nachhaltigkeitsexperten wurden die meisten Möbel, die derzeit auf Müllhalden landen, in den letzten 10 bis 15 Jahren hergestellt und haben somit gar nie erst den Status «Vintage» erreicht.

Welche Herausforderungen und Chancen ergeben sich für die Möbelbranche?

Einerseits kann der Vintage-Möbel-Trend zu einem Rückgang der Nachfrage nach neuen Möbeln führen. Andererseits bietet er für die Möbelbranche die Möglichkeit, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, wie zum Beispiel die Integration von Vintage-Möbeln in das eigene Sortiment oder die Zusammenarbeit mit Secondhand-Plattformen. Die zunehmende Nachfrage nach nachhaltigen Produkten wird die Möbelindustrie dazu bewegen, verstärkt Nachhaltigkeitskonzepte in ihre Produktionsprozesse und Produktdesigns zu integrieren. Doch Druck zur Veränderung kommt nicht nur von Konsumentinnen und Konsumenten: Laut einer neuen Verordnung sollen in Zukunft in der EU nur noch Produkte zugelassen werden, die langlebig, reparierbar, wiederverwendbar und recycelbar sind. Sollte sie tatsächlich in Kraft treten, kann davon ausgegangen werden, dass sich die Schweiz ebenfalls an dieser Verordnung orientieren wird – was Implikationen für die Möbelbranche mit sich zieht.

Welche Rolle spielt die Kreislaufwirtschaft im Kontext von Vintage-Möbeln und wie könnte diese weiter gestärkt werden?

Vintage-Möbel sind ein Beispiel für die erfolgreiche Umsetzung der Kreislaufwirtschaft, da sie wiederverwendet und aufgewertet werden, anstatt entsorgt zu werden. Um die Kreislaufwirtschaft weiter zu stärken, wären beispielsweise Massnahmen wie der Ausbau einer Reparatur- oder Upcycling-Infrastruktur, die Schaffung von finanziellen Anreizen für die Reparatur oder Rückgabe von alten Möbeln oder die Entwicklung von langlebigeren und leichter reparierbaren Möbeldesigns erforderlich.

Wie können Konsumenten bei der Möbelwahl noch bewusster vorgehen, ohne dass sie auf Stil und Qualität verzichten müssen?

Nachhaltige Möbel bestehen aus natürlichen, umweltfreundlich verarbeiteten Materialien und verzichten auf schädliche Chemikalien. Sie sind dank hochwertiger Verarbeitung besonders langlebig, was ihren ökologischen Fussabdruck minimiert. Kurze Transportwege tragen zusätzlich zur Nachhaltigkeit bei. Am nachhaltigsten ist es jedoch, Produkte, die man bereits besitzt, länger zu nutzen, bevor man sie durch neue ersetzt. Mit wenig Arbeit kann man vielen Möbeln einen komplett neuen Look oder eine neue Funktion verpassen. Vor der Geburt unseres ersten Kindes haben wir beispielsweise einen Aufsatz auf unsere Kommode geschraubt, um sie zu einem Wickeltisch umzufunktionieren. Auf die Schubladen haben wir eine gemusterte farbige Folie geklebt und die Griffe ersetzt. Jetzt passt sie perfekt zur Einrichtung des Kinderzimmers.

Wichtig ist auch, sich Gedanken zu machen, ob ein neues Möbelstück mit vorhandenen Einrichtungsgegenständen kombinierbar ist. Andernfalls besteht die Gefahr, dass man nach dem Kauf das Bedürfnis verspürt, die gesamte Einrichtung umzugestalten.

«Ich gehe nicht davon aus, dass es ein kurzfristiger Hype ist. Zum Problem werden kann in Zukunft aber die abnehmende Verfügbarkeit von Vintage-Möbeln.»

Das Interview führte Yvonne Lemmer, Redaktorin beim HEV Schweiz

Dr. Gianluca Scheidegger

Dr. Gianluca Scheidegger ist Senior Researcher und Speaker am Gottlieb Duttweiler Institut (GDI). Der promovierte Wirtschaftswissenschaftler analysiert gesellschaftliche, wirtschaftliche und technologische Veränderungen mit den Schwerpunkten Handel und Konsumverhalten.

«Der Trend bietet für die Möbelbranche die Möglichkeit, neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, z.B. die Integration von Vintage-Möbeln in das eigene Sortiment oder die Zusammenarbeit mit Secondhand-Plattformen.»

Wo kauft man Vintage-Möbel?

Heute ist es so einfach wie nie, auf den verschiedenen Online-Wiederverkaufsplattformen wie tutti.ch oder ricardo.ch gebrauchte Möbel zu kaufen. Wer lieber vor Ort einkauft, findet unten eine kleine Auswahl:

 

Möbel Zürich, Kalkbreitestrasse 10, 8003 Zürich. moebel-zuerich.ch

 

Studio Vintage Zürich, Seestr. 96, 8707 Uetikon am See. studio-vintage.ch

 

Modern Era – Vintage Design, Wylerring-strasse 34, 3014 Bern. modernera.ch