Der Herbst ist da. Das Laub der Bäume hat sich kupfergold verfärbt und gleitet langsam zu Boden. Bald sind die Hauswart- und Gärtnerequipen wieder unterwegs, um Bäume und Hecken zu trimmen. Gehölze im laublosen Zustand zu schneiden, ist fest im Denken verankert, schliesslich ist das Astgerüst jetzt gut sichtbar. Aber ist die kalte Jahreszeit tatsächlich der beste Zeitpunkt? «Nein», sagt die Biologin Katrin Joos Reimer. Sie ist Vizepräsidentin vom Bund Schweizer Baumpflege und seit über 30 Jahren Dozentin und Prüfungsexpertin im Lehrgang für Baumpflegespezialisten mit eidg. Fachausweis. «Dass sich der Baumschnitt im Winter etabliert hat, ist aus baumbiologischer Sicht falsch.» Warum also wird die kalte Jahreszeit generell als richtiger Zeitpunkt dargestellt? «Das hat historische Gründe. Längste Zeit war der Baumschnitt Aufgabe der Landwirtschaft, und im Winter hatten – und haben – die Landwirte am meisten Zeit dafür. Gleiches gilt für den Gartenbau.»
Baumspezifische Abwehrmechanismen
Mit dem Laubfall fahren Gehölze ihren Stoffwechsel herunter und gehen in den Winterschlaf. Abwehrmechanismen gegen Bakterien und Pilzsporen funktionieren jetzt nur sehr eingeschränkt. «Nach einer Verletzung baut der Baum in Verletzungsnähe im Splintholz, also dem äusseren, jüngeren Holz, bestimmte Schutzstoffe auf», erklärt die Fachfrau. «Sie verhindern, dass sich Luft und Schadorganismen ungehindert im Holz ausbreiten. Die Reaktion erfolgt in Sekundenschnelle. Durch diese Abschottung wird das dahinterliegende, gesunde Holz geschützt.» Im Winter ist der Baum nicht in der Lage, auf eine Verletzung zu reagieren. Und je milder der Winter, desto aktiver sind die Pilzsporen. Oft ist eine Infektion durch holzzersetzende Pilze die Folge.
Besonders Schnittverletzungen sind heikel, denn durch Sägearbeiten führt der Schnitt quer durchs Gewebe. Je grösser der Astdurchmesser, desto mehr altes Holz ist betroffen und desto schlechter funktioniert der baumspezifische Schutzmechanismus. «Wo das Holz altershalber schon zu Kernholz geworden ist, erfolgt gar keine Reaktion mehr auf die Schnittverletzung. Helles Kernholz enthält kaum Schutzstoffe und infiziert sich deshalb leicht», erklärt die Spezialistin.
Ausnahmen zur Regel
Manche Bäume, beispielsweise der Fächerahorn Acer palmatum, vertragen den Schnitt überhaupt nicht. «Er treibt kaum nach», erklärt Katrin Joos Reimer. «Durch den Schnitt zerstört man sein gesamtes Erscheinungsbild. Fächerahorne werden für ihre typische Kronenarchitektur geschätzt. Werden sie zu stark geschnitten, sind sie verstümmelt.»
Aber es gibt Ausnahmen zur Sommerschnitt-Empfehlung. Bei Nadelgehölzen wie Kiefer und Fichte wirkt das antibakterielle Harz pilzhemmend. Apfel- und Birnbäume erhalten in der Regel einen jährlichen Erhaltungsschnitt, um den Fruchtertrag zu steigern. Dabei werden meist nur Jahrestriebe entfernt, wodurch nur kleine Schnittflächen am jungen, aktiven Holz entstehen. Als Termin für diesen Erhaltungsschnitt bietet sich der Februar an. Grössere Äste sollte man allerdings im Sommer entfernen. Eine weitere Ausnahme sind die Platanen. Ihr Laub weist eine flaumige Behaarung auf, die bei vielen Menschen zu allergischen Reaktionen führt. Im Winter besteht dieses Problem nicht.
Der Zahnarzt stand Pate
Ein weiterer Irrglaube betrifft die Notwendigkeit eines Wundverschlusses. «Wundverschlussmittel sind eine Erfindung aus den 1970er-Jahren, als man die baumeigenen Abwehrmechanismen noch nicht kannte. Dabei hat man die Arbeitsweise eines Zahnarztes auf die Bäume übertragen. So wie man Karies im Zahn aufbohrt und das Loch mit einer Füllung versieht, hat man die Holzfäule im Stamm herausgebohrt. Zum Teil wurden die Hohlräume mit Zement aufgefüllt. Das hat nicht funktioniert, denn unterhalb des Zements geht die Fäule einfach weiter. Vor allem schafft man neue Wundflächen», sagt Katrin Joos Reimer. Das Problem dabei: In der Zeitspanne zwischen dem Entfernen des Astes und dem Anbringen des Mittels haben sich bereits zahllose Pilzsporen auf dem Holz verteilt. «Die Deckschicht hält das Holz darunter länger feucht, was Pilzsporen lieben. Im Laufe der Zeit trocknet das Holz trotzdem nach und beginnt zu reissen. Dann reisst auch der Wundverschluss durch. Und schon wieder haben wir Öffnungen im Holz.»
Die Endgrösse im Auge behalten
Zwei Nachteile hat der Sommerschnitt. Bei Baumarten mit empfindlicher, feiner Rinde ist die Gefahr von Sonnenbrand grösser. Ein weiterer Aspekt ist der Vogelschutz. Daher sollte stets geprüft werden, ob in den zu schneidenden Bäumen Vögel brüten. Falls ja, muss man mit der Schnittarbeit warten, bis die Brut abgeschlossen ist.
Wem die Gesundheit seiner Zierbäume am Herzen liegt, schneidet sie also nicht im laublosen Zustand, sondern wartet bis Juni damit. Dann läuft die Photosynthese auf Hochtouren und der Baum ist in seiner aktivsten Phase. Weist der Baum allerdings abgestorbene oder angerissene Äste auf, sollte man sie zeitnah entfernen. Grundsätzlich gilt: Wer einen Baum neu pflanzt, sollte sich unbedingt dessen Endgrösse bewusst sein. Denn hat er genug Platz an seinem Standort, ist der Baumschnitt oft gar nicht erforderlich.
«Dass sich der Baumschnitt im Winter etabliert hat, ist aus baumbiologischer Sicht falsch.»
Professionelle Baumpflege
Den Beruf des Baumpflegespezialisten, der Baumpflegespezialistin ist noch relativ jung, erst 1986 wurde der Vorläufer des heutigen «Bund Schweizer Baumpflege» gegründet. Die erste Berufsprüfung für Baumpflegespezialisten mit eidgenössischem Fachausweis wurde 1992 durchgeführt. Zu den Tätigkeitsfeldern der Baumpflegespezialisten gehören Kronenpflege, Baumschutz und -pflanzung, Erhalt der Verkehrssicherheit, Beurteilung von Gehölzkrankheiten, Fällungen und Gutachten.
Weitere Infos finden Interessierte unter: baumpflege-schweiz.ch