Suonen-Wanderung

Heilige Wasser am Abgrund

Ausflugstipp Eine Wanderung entlang der alten Walliser Wasserleitungen, den Suonen, ist zwar nicht anstrengend, dafür aber umso aufregender, weil es auf der einen Seite gäch den Hang hinab geht.

von Üsé Meyer

Journalist

Zwei Fuss breit ist das leicht gewölbte Brett. Darunter befindet sich viel Luft und sonst lange nichts. Jeder Schritt braucht Überwindung. Das Tau, an dem wir uns festkrallen, ist nur locker gespannt und gibt bei jedem Zug nach – was die Sache nicht gerade einfacher macht. Wir befinden uns auf den ersten Metern des «Chänilzugs», einem Abschnitt der «Gorperi Suone», auf dem die Holzkännel der Wasserleitung mitten durch die hohe, überhängende Felswand führen. «Betreten auf eigenes Risiko», steht auf einem goldenen Täfelchen. Immerhin, wir haben die Wahl: Entweder wir gehen über das ausgesetzte Brett oder durch den kleinen Tunnel ans andere Ende der Felswand. Die Walliser, die früher die Suonen gebaut und unterhalten hatten, hatten hingegen lange keine Wahl: Sie mussten unter Lebensgefahr in die gächen Felswände steigen – viele fanden dabei den Tod.

Warum sie dieses Risiko überhaupt auf sich nahmen? Das wird im Film «An heiligen Wassern» aus dem Jahr 1960 gleich zu Beginn beantwortet: «Für die hoch gelegenen Walliser Bergdörfer bedeutete Wasser Leben. Deshalb sind die in den Holzkänneln fliessenden Wasser die heiligen Wasser.» Dazu muss man wissen, dass im Wallis nicht viel mehr Regen fällt als in Süditalien und ohne die Wasserleitungen gerade in den höher gelegenen Dörfern keine Landwirtschaft möglich gewesen wäre. Also bauten die Walliser schon vor mehr als 800 Jahren ihre Suonen, die einen Teil des Berg- und Gletscherwassers statt ins Tal, das damals sowieso versumpft war, in die Dörfer am Hang brachten. Dazu wurden Rinnen in den Boden gegraben, Leitungen in den Fels gehauen oder, wie beim «Chänilzug», Kännel in die Felswand gehängt.

Und das Dorf schaut gebannt zu

Auf dem Weg zum «Chänilzug» führt unser Weg grösstenteils entlang der «Gorperi» – rechterhand das gurgelnde, weissgraue Wasser der Suone, linkerhand die steilen Flanken, die weit hinunter zum Baltschiederbach reichen, und dazwischen der 50 Zentimeter breite Wanderweg. Wir passieren kleine, niedrige Felstunnels, durch die das eiskalte Wasser fliesst. Und wir kommen zu einem von der Suone gespiesenen Wasserrad, das einen Hammer antreibt, dessen regelmässiges «Tocken» schon früher den unweit entfernten Dorfbewohnern mitteilte, dass alles in Ordnung ist, dass das so wichtige Wasser für Land, Vieh und Mensch fliesst. Nicht so im Film «An heiligen Wassern». Hier versiegt der Wasserfluss im fiktiven Walliser Dorf St. Peter – eine Lawine hat die Kännel in der Felswand beschädigt. Ein uraltes Gesetz besagt, dass ausgelost wird, wer von den Männern des Dorfes in die Wand hinaus muss. Doch für einmal schert sich der Gemeindepräsident nicht um das Gesetz. Der vermögende «Presi», wie er von allen genannt wird, bietet dem ärmsten Bauern den Erlass sämtlicher Schulden, wenn er freiwillig in die Wand geht. Dieser einfache Bauer heisst, so zufällig schlägt manchmal die Ironie zu, Seppi Blatter – wie der einstige mächtige Walliser «Presi» der Fifa. Blatter geht schliesslich in die Wand. An deren Fuss stehen seine Familie, die Dorfbewohner und der Pfarrer. Gebannt verfolgen sie jeden Schritt Blatters auf den ausgesetzten Känneln. Tatsächlich war es früher üblich, dass bei riskanten Arbeiten an den Suonen-Leitungen der Pfarrer des Dorfes dabei war. Und weil dieser Job so gefährlich war, wurden damals Häftlinge, die freiwillig in die Wand gingen, nach vollbrachter Arbeit begnadigt.

Auf Wiedersehen in der Ewigkeit

Wir haben, wie gesagt, beim «Chänilzug» die Wahl: Die einen gehen über das ausgesetzte Brett, die anderen durch den Felstunnel. Nach 50 Metern treffen sich unsere Wege bereits wieder. Weiter geht es dem Wasser entlang immer tiefer ins Baltschiedertal hinein. Hier werden die Felswände schroffer und die Berggipfel höher. Hier, wo das Wasser der «Gorperi-Suone» vom Baltschiederbach abgezweigt wird, führt eine Brücke über das Wasser auf die andere Talseite. «Vorsicht!», steht auf dem Wegweiser zum Pfad, der wieder talauswärts entlang der Suone «Undra» führt. Tatsächlich fallen auch auf diesem Streckenabschnitt die Hänge linkerhand teilweise senkrecht ab. Meist nimmt aber die dichte Vegetation am Abhang der Ausgesetztheit den Schrecken.

Im Film verfolgen die Bewohner von St. Peter mit Schrecken, wie Seppi Blatter zwar die Reparatur der Kännel schafft, dann aber ausrutscht und in den Tod stürzt. Mit einem «auf Wiedersehen in der Ewigkeit, Blatter» nehmen die Dorfbewohner am Sarg von ihm Abschied. «Er ist freiwillig hochgegangen, das weisst Du so gut wie ich», sagt der Presi zu einem Dorfbewohner und weist jegliche Schuld von sich. Nur der Sohn von Seppi Blatter sieht das anders.

Uns begleitet nach wie vor das Plätschern und Gurgeln der «Undra-Suone», deren Wasser sich, genauso wie der Wanderweg, immer eng entlang der Felswand schlängelt. Natürlich hat in der Zwischenzeit die Bedeutung der «Heiligen Wasser» abgenommen. Viele Leitungen wurden zudem modernisiert und in den Untergrund oder den Fels verbannt. Dafür haben die offen verlegten Suonen mit den entlangführenden Wanderwegen heute auch einen touristischen Wert. Und nichtsdestotrotz dienen viele von ihnen nach wie vor der Bewässerung. So passieren beispielsweise auch wir, kurz vor unserem Ziel Ausserberg, diverse Rasensprengeranlagen, die ihr Wasser aus der «Undra» beziehen.

Die Walliser mussten unter Lebensgefahr in die gächen Felswände steigen.

Walliser Suonen-Wanderung

Anreise / Rückreise: Mit der Bahn bis Visp und mit dem Postauto bis Station Eggerberg / Eggen bzw. retour ab Ausserberg / Dorf

Wanderung: Eggen – Gorperi-Suon – Älum (Punkt 1216) – Undra-Suon – Ausserberg

Dauer: ca. 3 ¼ Stunden

Länge / Höhenmeter: 8 km, 500 m

Anforderung: Konditionell leicht. Trittsicherheit und bedingte Schwindelfreiheit sind Voraussetzung.

Sicherheit: Nicht bei Nässe gehen und Kinder allenfalls ans Seil nehmen.

Ausrüstung: Wanderausrüstung, gutes Schuhwerk.