Fassaden

Gebäudehülle und menschliche Haut haben viele Gemeinsamkeiten

Gebäudehülle Vom monofunktionalen Schutz zur multifunktionalen Fassade – die Gebäudehülle ist heute so gut aufgebaut wie unsere Haut. Aus der einstigen Mauer vor dem «unberechenbaren Draussen» ist eine intelligente, multifunktionale Fassade geworden.

von Stefan Aeschi

Dipl. Architekt ETH/SIA, DAS Wirtschaft FH, Experte Bau- und Energietechnik beim HEV Schweiz

Wenn wir aus dem Fenster schauen oder uns in bebautem Gebiet bewegen, begegnen uns überall ganz unterschiedliche Fassaden, die einen ersten Eindruck eines Gebäudes liefern. Fassaden als Ausdruck erzählen manchmal spannende Geschichten, manchmal scheinen sie uns auch förmlich anzuschreien, oder sie schweigen. Die Bezeichnung Fassade stammt sicher nicht zufällig vom lateinischen «facies» ab, was so viel wie Gesicht heisst.

Entwicklung der Gebäudehülle

Neuerungen und Verbesserungen in materiellen und technischen Bereichen des Bauens erfolgten in der Vergangenheit stets schrittweise und scheinbar unmerklich. Deshalb ist man versucht anzunehmen, es hätten sich im Bausektor keine bedeutenden Innovationen ereignet. Dem ist aber nicht so. Im Laufe der Zeit hat sich sehr viel getan. Ursprünglich dienten die Mauern eines Haues einzig dem Schutz vor dem «unberechenbaren Draussen». Heutzutage hingegen werden Gebäude immer weniger als isolierte Gebilde betrachtet, sondern als interagierende, intelligente Organismen im Sinne adaptiver Systeme verstanden.

Der konstruktive Aufbau der wichtigsten Bauteile der Gebäudehülle – Aussenwand, Dach, Fenster – hat sich über die Zeit deutlich verändert (siehe Kasten «Anforderungen an die Gebäudehülle seit 1900). Die Bautechnik weist mittlerweile einen hohen Standard auf und erfüllt die aktuellen Anforderungen an Wärme-, Feuchte-, Schall- und Brandschutz auf einem hohen Niveau. Vor dem Hintergrund des Klimaschutzes, der Nutzung erneuerbarer Energien und den damit steigenden Anforderungen an die Gebäudehülle werden sich Bautechnik und Baustandards künftig rasant weiterentwickeln müssen.

Aufbau und Funktionen

Gemäss Definition ist die Gebäudehülle als Aussenhaut eines Gebäudes ein geschlossener geometrischer Baukörper und bildet die physikalische Trennung zwischen der äusseren und inneren Gebäudeumgebung. Alle Bauteile, die das Gebäude nach aussen abschliessen, gehören demnach zur Gebäudehülle. Als Aussenhaut bildet sie eine Barriere gegen Niederschlag, Umgebungstemperatur, Aussenluft sowie Geräusche und Strahlung. Mit ihren physikalischen Komponenten – Bodenplatte, Wände mit Türen und Fenstern sowie Dach – trennt die Gebäudehülle den beheizten Raum vom Aussenklima. Die Dichtheit, Haltbarkeit und Effektivität eines mehrschichtigen Aufbaus hängen von verschiedenen Einflussfaktoren ab. Neben der Dimensionierung, den physikalischen Eigenschaften und der Kompatibilität der Materialien ist zentral, wie die Elemente zusammengefügt werden und wie sie zusammen wirken.

Die wärmeübertragende Aussenhaut muss neben wechselnden thermischen Bedingungen sowie Wind- und Schneelasten auch bauphysikalischen Ansprüchen genügen. Somit hat die Gebäudehülle drei wichtige Hauptfunktionen:

Stützfunktion zur Aufnahme und Ableitung mechanischer Lasten;

Kontrollfunktion des Material- und Energieflusses;

Gebäudeabschluss klimatisch und räumlich.

Neben den funktionalen Eigenschaften hat die Gebäudehülle als Übergang zwischen innen und aussen auch soziale und ästhetische Aufgaben. Sie gehört sowohl zum Haus als auch zum Siedlungs- respektive Stadtraum, bietet Schutz vor Umwelteinflüssen, schafft Privatsphäre, grenzt Eigentum ab und übernimmt eine kulturelle Funktion, wie die verschiedenen Stilepochen und Bauweisen unterschiedlicher Regionen eindrücklich zeigen. Gleichzeitig steigen heute die Anforderungen an die Gebäudehülle in Bezug auf Nachhaltigkeit, Energieeffizienz und Wohnkomfort.

Fast wie die menschliche Haut

Intelligente Gebäudehüllen verändern ihre Eigenschaften, so wie sich auch die menschliche Haut anpassen kann. Die Flexibilität menschlicher Haut kann eine Fassade aber nicht eins zu eins imitieren, schliesslich ist sie (noch) kein natürlicher Organismus. Um die gewünschte Reaktion auf Hitze und Kälte, Dunkelheit und Licht zu erreichen, müssen Fassaden über ein Zusammenspiel von technischen Komponenten verfügen.

Je flexibler Gebäudehüllen in Abhängigkeit von Tages- und Jahreszeit sowie von Wetter und Klima reagieren können, desto weniger Energie wird benötigt, um gewünschte Raumbedingungen zu erreichen. Einstellbare Sonnenschutzsysteme verbinden heute Wärmeeintrag, Blend- und Sichtschutz, Tageslichtnutzung, solare Wärmegewinnung und Auskühlschutz miteinander.

Im Gegensatz zum Sinnesorgan Haut können Fassaden nicht schwitzen oder eine Gänsehaut bekommen. Dennoch bringt die Gebäudehülle klimatische und baukonstruktive Bedingungen in Einklang. Die Konzeption der Gebäudehülle ist massgeblich dafür verantwortlich, dass ein Gebäude funktioniert, energieeffizient und behaglich ist sowie von den Nutzern akzeptiert wird.

Über ihre Schutzfunktion hinaus ist die menschliche Haut ein Medium sinnlicher Wahrnehmung und Botschafterin zwischen Innen- und Umwelt. Sie regelt den Wärmehaushalt des Körpers, absorbiert Sauerstoff und reproduziert sich selbst. Auch das sollen moderne Gebäudehüllen in Zukunft zunehmend leisten können.

Wechselspiel mit der Natur

Bereits 2010 wurde mit dem Forschungs- und Bürogebäude Media Tic in Barcelona ein Gebäude errichtet, bei dem an zwei Seiten des Gebäudes aufblasbare Kissen zum Einsatz kommen, die sowohl der Verschattung als auch der Wärmedämmung dienen. Die luftgefüllten Kissen mit zwei lichtabweisenden Membranen an der Südost-Fassade blasen sich bei starker Sonneneinstrahlung auf. In den Kissen der Südwest-Fassade breitet sich je nach Lichteinfall ein opakes Stickstoffgemisch aus. Die Fassade ist Heizung und Klimaanlage zugleich. Sogenannte «smarte Fassaden» werten über eine Software u. a. Wettervorhersagen aus, mit dem Ziel, durch Umwandlung der Informationen über Beschichtungen, Flüssigkeiten und Gase die gewünschten Reaktionen auszulösen. Technologie trägt also entscheidend dazu bei, ein natürliches Verhalten zu imitieren.

Bei den «vertikalen Gärten» des französischen Gartenarchitekten Patrick Blanc wird die Gebäudehülle durch Fassadenbegrünung lebendig. Filzlagen aus recycelten Acrylfasern statt Erde verwandeln Staubpartikel aus der Luft in Dünger.

2013 enstand in Hamburg-Wilhelmsburg das BIQ-Algenhaus mit weltweit erster Photobioreaktor-Fassade. In den an der Südwest- und Südostfassade angeordneten Glaselementen werden Mikroalgen gezüchtet, die durch Fotosynthese und Solarthermie Biomasse und Wärme produzieren. Gleichzeitig ermöglicht die grüne Fassade neue Perspektiven in der Lichtsteuerung und Beschattung. Die lichtdurchlässigen Hohlkörper können klimaunabhängig an beliebigen Orten installiert werden.

Ob Hightech oder Lowtech – die Zukunft der Gebäudehülle wird von Technik und Natur beeinflusst sein. Vielleicht wird die Gebäudehülle sogar irgendwann nicht mehr nach den heutigen Gebäudelabels zertifiziert werden, sondern eine Bio-Knospe tragen ...

 

Anforderungen an die Gebäudehülle seit 1900

Vor 1900

Keine gesetzlichen Anforderungen betreffend Energieeffizienz.

Um 1930

Keine Änderungen.

Um 1960

Kantonale Baugesetze: ausreichender Wärmeschutz von U < 1,2 W / m2K.

Um 1970

SIA 180 «Empfehlung für Wärmeschutz im Hochbau». Für Einzelbauteile Mindest­vorschriften für U-Werte
(SIA 271 «Flachdächer» 0,35 – 0,65 W/ m2K).

Um 1980

SIA 180/1 «Winterlicher Wärmeschutz». Minimalvorschriften für mittlere U-Werte und erste Energiegesetze
(z. B. Kanton Basel).

Um 1990

SIA 380/1 «Energie im Hochbau». Festlegung von Grenz- und Zielwerten für den Jahresverbrauch bei Standard­nutzungen für ein Gebäude nach Einflussgrössen:

Geometrie und wärmetechnische Eigenschaften der Aussenbauteile

Klimadaten des Standortes

Normalnutzung (Raumtemperatur, Anzahl Personen, Warmwasser- und Stromverbrauch)

Jahresnutzungsgrad bei der Heizwärmeerzeugung

Um 2020

MuKEn: Mustervorschriften der Kantone im Energiebereich definieren den Mindeststandard des Wärmeschutzes mit Anforderungen an den Einsatz von erneuerbarer Energie.

SIA 380 / 1 «Thermische Energie im Hochbau», Wärmeschutz mittels ­Einzelbauteil- oder Systemnachweis.

Minergie: Weitergehende Anforderungen an die Energieeffizienz mit Zertifikat.

SIA 2040 «SIA-Effizienzpfad Energie». Weitergehende Optimierung der Gebäude gemäss SIA 2040 mit dem Ziel der 2000-Watt-Gesellschaft nach Kriterien des Primärenergieverbrauchs sowie CO2-Emissionen für Erstellung, Betrieb und Mobilität.

 

Menschliche Haut als Schutzhülle

Die menschliche Haut als Schutzhülle übernimmt überlebenswichtige Funktionen und verfügt über vielfältige Anpassungsmechanismen. Ihr mehrschichtiger Aufbau sorgt beispielsweise dafür, dass die Körpertemperatur permanent reguliert und der Körper vor Wärmeverlusten, Kälte und äusseren Einflüssen geschützt wird. Bei Überhitzungsgefahr fungiert die Haut als Klimaanlage — Schweissdrüsen befeuchten ihre Oberfläche, das Wasser verdunstet und kühlt dabei die Hautoberfläche. Die Haut als Barriere zwischen Aussenwelt und Organismus ist eines der wichtigsten menschlichen Organe. In Bezug auf nachhaltiges Bauen hat die Haut Vorbildcharakter für klimaaktive Fassaden.