Latsch thront gut sichtbar auf einer Kuppe auf 1588 m ü. M. oberhalb von Bergün, der letzten Ortschaft vor dem Albulapass. Mit vielen gut erhaltenen Häusern im Engadiner Baustil zählen Latsch und die umliegenden Orte zu den schönsten Bergdörfern Graubündens. Hier geht es ruhig zu und her, im idyllisch gelegenen Weiler scheint die Zeit still gestanden zu haben. Nicht von ungefähr war Latsch Drehort mehrerer «Heidi»-Filme, darunter dem Schweizer Klassiker aus dem Jahr 1952. Die damals auf Zelluloid gebannte «heile Welt» ist erhalten geblieben, das Ortsbild mit seinen Fresken und Sgraffiti ist noch immer intakt.
Einem der Häuser im 50-Seelen-Dorf wurde nun neues Leben eingehaucht: Das über 350 Jahre alte, stattliche Bauernhaus gegenüber der Kirche stand ein halbes Jahrhundert leer, war zur Ruine verkommen. Das Zürcher Büro Felix Partner Architektur und Design baute das denkmalgeschützte Haus mit viel Liebe zum Detail um. In Zusammenarbeit mit lokalen Handwerkern und Spezialisten sowie der Denkmalpflege verwandelte sich das historische Gebäude in ein Haus mit Null-Energiebilanz. Denn die Bauherrschaft wünschte sich ein energieeffizientes Feriendomizil. «Wir wollten die Geschichte des Hauses weiterschreiben und es dabei in die heutige Zeit transferieren», erklärt Architekt Peter Felix. «Unser Ziel ist, dass jedes Haus künftig sein eigenes Kraftwerk ist.» Wie das geht, demonstrieren er und sein Team: Auf den grossen Dächern der beiden Anbauten wird durch Fotovoltaik- und Solarthermie- Panels Sonnenenergie gewonnen. Die im Sommer überschüssige Energie wird über fünf Erdsonden im Felsen gespeichert, wo sie im Winter klimaneutral gewonnen werden kann.
Bewahren wichtigen Kulturguts
Das Haus ist auf der Nordseite mit dem Nachbargebäude verbunden. Durch das typische Rundbogentor gelangt man in den Sulèr, den Vorraum, der als Zugang zu den Wohnräumen und als Durchfahrt mit dem Heuwagen in die Scheune diente. Die Decke beim Eingang ist vom Russ über die Jahre schwarz geworden ist: «Sie hat schon mehrere Brände erlebt», erzählt Felix. Schon hier wird deutlich, dass das Haus in seiner Geschichte immer wieder umgebaut wurde, je nach den Bedürfnissen der Besitzer. «Auch wir fügen dem langen Leben des Hauses eine weitere Schicht hinzu», sagt der Architekt. Deshalb sollten die verschiedenen Bauetappen nach den Sanierungsarbeiten ersichtlich bleiben. Bestehende Elemente wie Bruchsteinmauerwerk, Balken und Holzböden, aber auch ganze Zimmer liessen sich erhalten und wurden fachgerecht restauriert.
Relikte längst vergangener Zeiten sind auch die Trichterfenster und die Spuren von Pferd und Wagen auf den massiven Holzdielen im Sulèr. Drei Jahre dauerte der Umbau, ein Abenteuer mit anfangs unbekanntem Ausgang. Das Projekt erforderte neben bautechnischem Wissen auch diplomatisches Geschick – sowie Zeit und Geduld aller Beteiligten. Denn alte Häuser, die wie dieses nicht mit Plänen dokumentiert sind, gleichen oftmals Wundertüten: «Jeder Eingriff kann zu Überraschungen führen, die das weitere Vorgehen beeinflussen», sagt Felix.
Erscheint das Haus von aussen als massiver Steinbau, zeigt es sich im Innern teils als Holzbau. In Strickbauweise gezimmerte kleinteilige Räume sind aneinandergereiht und übereinandergestapelt. Im Erdgeschoss befinden sich Stube, Küche und Speisekammer sowie die grosszügige Wohnhalle, die einst Scheune war, in der man Heu lagerte. Der angrenzende Stall wurde in eine luftige, mit Lärchenholzlamellen verkleidete Loggia verwandelt. Alt und Neu sind meisterhaft verwoben. Alle Eingriffe sind klar erkennbar, Felix Partner haben sich dabei auf wenige Materialien und eine reduzierte Formensprache beschränkt: Mit Sichtbeton, schwarzem Stahl und einheimischem Lärchenholz, allesamt naturbelassen und unbehandelt, wurde die bauliche Transformation realisiert. «Wir wollten, dass sich die neuen Elemente respektvoll einfügen und dabei doch gut ablesbar sind», sagt der Architekt. Und so wurde auch der neu eingefädelte Erschliessungskern, ein skulpturaler Treppenturm, in Sichtbeton gefertigt. Die drei Obergeschosse beherbergen – als ineinander verdrehte Kammern – Lesezimmer, Stube, Arbeitsbereich, die pechschwarze Räucherkammer, Schlafzimmer und Bad.
Puristische Ästhetik im Interieur
Die Verbindung von Tradition und Moderne bestimmen auch das puristische Designkonzept. Designerin Rahel M. Felix entwickelte ein Farb- und Materialkonzept. Sie interpretierte dafür die ortstypischen Quadermalereien in zeitgemässer Form und übertrug diese auch ins Innere. Dem eigenwilligen Gestaltungsmotiv, das als Einheit nur aus drei Formen besteht, begegnet man so in der Wohnhalle als Wandbemalung, ebenso als grossen Spiegel im Master-Bad und bei allen Teppichen im gesamten Gebäude. Die Farbgebung der Innenräume nimmt die seit jeher vorhandenen Lichtstimmungen in den einzelnen Räumen auf: dunkle Töne in der ehemaligen Scheune, helle in der repräsentativen Stube.
Die grösste Überraschung wartet aber im ehemaligen Stall für die Tiere – dort lädt ein komplett aus Sichtbeton gefertigtes Spa mit Sauna, Dampfbad und Pool zum Entspannen mit Blick auf die Bergwelt ein. «Eine Herausforderung für die Handwerker», sagt Felix. «Die Einlagen der Gläser für Sauna und Dampfbad sind Speziallösungen.» Das Wagnis, aus einer Ruine ein Gesamtkunstwerk zu machen, hat sich gelohnt: Das Gebäude hat bereits mehrere Preise gewonnen, darunter den renommierten Europäischen Solarpreis 2020.