Wohnen

Über den Dächern von Wiedikon

Umbau Das Zürcher Architekturbüro Caruso St John schafft mit dem Umbau eines Industriegebäudes aus den 1940er-Jahren im Herzen von Zürich neue Arbeits- und Wohnräume für eine junge Familie.

von Andrea Eschbach

Journalistin, Zürich

Im Herzen von Zürich-Wiedikon, ganz in der Nähe des Bahnhofs Wiedikon und der Synagoge Agudas Achim, liegt die Erikastrasse. Anders als die stark befahrene West- und Zweierstrasse ist sie ruhig und wenig frequentiert. Hier hat sich ein junges Paar einen Traum verwirklicht, den Umbau eines Hauses aus dem Jahr 1947. Mitte der 1950er-Jahre hatte der Grossvater des Hausherrn das Gebäude gekauft, um es als Lagerhaus und Depot für die Bücher seines Verlages – den renommierten Arche-Verlag – zu nutzen. Als der Verlag Anfang der 1980er-Jahre verkauft wurde, wurde das Haus verschiedentlich genutzt. Bis vor dem Umbau hatte der Vater des Bauherrn die Räume als Ausstellungsort (Archiv11) sowie Buchladen genutzt. Vor rund acht Jahren dann eröffnete der heutige Eigner im Haus sein Grafik-Studio. Mit seiner Partnerin bewohnte er die 1. Etage, einen loftartigen Raum mit improvisierter Küche und Bad. Bald wurde es dem Paar jedoch zu eng. Da sie aber im Haus und Quartier bleiben wollten, entschieden sie sich für einen Umbau. Die Wahl fiel dafür auf das Zürcher Architekturbüro Caruso St John. «Wir suchten Architekten mit einer radikalen und einzigartigen Vision für den Dach- und Innenausbau, welche die Geschichte des Hauses miteinbeziehen und bewahren sollten», erklärt der Bauherr. «Uns war es wichtig, die Geschichte und Seele des Hauses zu bewahren und nicht alles beständig zu erneuern.»

Sanfte Eingriffe mit Liebe zum Detail

Eine Herausforderung für die Architekten. Denn die Ausbaumöglichkeiten waren baurechtlich recht eingeschränkt, da die Erikastrasse eng ist und man somit strassenseitig nicht höher bauen darf. Zudem wünschte sich das Paar, die ersten zwei Etagen als Studios zu erhalten – die Sanierung sollte sich auf ein Minimum beschränken. Die Architekten liessen die bestehenden schönen Originalfenster mit neuen Isoliergläsern bestücken, ohne dabei die Profile zu verändern. Der Boden wurde mit Linoleum belegt, die Wände und Radiatoren frisch gestrichen. Alle elektrischen Leitungen blieben Aufputz bestehen, die vertikalen sanitären Leitungen wurden mit zylindrischen metallischen Lochblechen verkleidet.

In die ehemalige Velowerkstatt im Erdgeschoss zog das Grafikatelier des Bauherrn ein.Das erste Obergeschoss wird ebenfalls als Atelier genutzt, die bestehende Wohnung im zweiten Obergeschoss wurde um das neu gebaute dritte Obergeschoss erweitert. Hellgraues Linoleum und grau gestrichene Radiatoren bringen optisch Ruhe in die sanft renovierten Bestandsräume. Schlaf- und Badezimmer sind im Bestand angeordnet, der in der Aufstockung darüberliegende Raum umfasst den Wohnbereich und die Küche. Der Kontrast zwischen dem als verkleideten Holzbau errichteten Teil und dem bestehenden Massivbau mit seinen Wänden aus Backstein bestimmt dabei die innenräumliche Atmosphäre, aber auch die äussere Erscheinung des Gebäudes.

Radikale Lösung

So sanft die Sanierung in den ersten beiden Geschossen ausfällt, so radikal ist sie im Dachgeschoss: Die Dachform öffnet sich einzig hofseitig über das lange Fenster – wie ein Visier. Mit der Aufstockung schufen die Architekten einen dramatischen Raum: Sein einfaches, fast kubisches Volumen setzt sich in einer steilen Form fort, die sich von der Traufe zu einer breiten neuen Fassade entwickelt. Die Dachfigur folgt vom dreieckigen Walmdach an der Stirnfassade zum Satteldach an der Brandmauer. Innerhalb einer einzigen Woche gelang es, den Aufbau in Holzelementbauweise zu erstellen. Die aus drei Dreiecken gebildete Form des Dachs bildet sich wie ein Schatten auf dem Boden in der Geometrie des Bodenmusters ab: Das Linoleum ist in grauen und hellgrauen Rechtecken rautenförmig verlegt. Die danach eingebrachte innere Verkleidung der Dachfigur und die Einbauten der Trennwände sind alle mit furnierten Holzstabplatten erstellt, welche silbrig gespritzt wurden, sodass das Okumé-Furnier mit seiner wilden Maserung noch sichtbar ist. Durch den silbrig metallischen Farbauftrag wird sowohl am Tag das Sonnenlicht wie auch am Abend das Kunstlicht der drei Lampenkörper an den eingebauten Möbeln unterschiedlich reflektiert. Ein grosser, silbrigschimmernder Vorhang bietet abends Sichtschutz. Die kühlen Farbtöne ergänzen Rosé-, Grau- und Rottöne in den Fronten der Einbauten. Die Küche steht frei im Raum, eine schwenkbare schwarze Metallleuchte bringt Licht über Kochfeld und Küchentheke sowie über den Esstisch. Aus schwarzem Metall ist auch die Bücherleiter gefertigt, die selbst die obersten Bücher des in den Dachspitz gebauten Regals zugänglich macht. Der kleine Balkon kragt in den Innenhof aus – man wohnt buchstäblich in einer Dachlandschaft.

Behutsame Sanierung des Bestands trifft hier auf einen zeitgenössischen Eingriff: Das Neubauvolumen differenziert sich mit der Fassade aus Metall vom verputzten Bestand.Das Team von Caruso St John beweist eindrücklich, wie man das gewerbliche Erbe eines Hauses bewahren und es dennoch in die Moderne führen kann.

«Uns war es wichtig, die Geschichte und Seele des Hauses zu bewahren und nicht alles beständig zu erneuern.»