Ausflüge

Über 1000 Stufen musst du gehn

Tessin Die Wanderung von Luganos Hausberg San Salvatore bis nach Morcote ist ein Klassiker.Sie bietet Ausblicke, Geschichte und zum Schluss eine fast endlose Treppe hinunter zum Postkartenidyll schlechthin.

von Üsé Meyer

Journalist

Was haben der Erfinder des Reissverschlusses, Michelle Hunziker und Hermann Hesse gemeinsam? Sie alle haben einen Bezug zum Dörfchen Carona, an dem wir auf unserer Wanderung vom Gipfel des San Salvatore bis zum ehemaligen Fischerdörfchen Morcote vorbeikommen werden. Doch davon später. Jetzt stehen wir erstmal auf dem Aussichtsturm des San Salvatore – gut 600 Meter über Lugano. Der Ausblick ist grandios: im Norden Lugano und der Monte Brè, östlich der Monte Generoso, im Süden der bewaldete Bergrücken der Halbinsel Ceresio – über den unsere Wanderung führt, und westlich geht der Blick bis zu den Walliser 4000er-Gipfeln von Allalin und Alphubel. Beinahe senkrecht unter uns glitzert das tiefgrüne Wasser des Lago di Lugano und am gegenüberliegenden Ufer, in der italienischen Enklave Campione, steht unübersehbar das erst kürzlich wiedereröffnete Casino aus der Feder des Tessiner Architekten Mario Botta.

Das Model und der Reissverschluss

Im Schatten des Waldes führt unser Weg nun steil die Bergflanke hinab und im Weiler Ciona durch die mit Kopfstein gepflasterten engen Gassen. Weiter geht es über einen breiten Waldweg bis zum kleinen – und doch ein bisschen berühmten – 800-Seelen-Dorf Carona. In diesem malerischen Ort lernte im Sommer 1919 Hermann Hesse seine zweite Frau Ruth Wenger kennen. Die Begegnung beschreibt er in seiner Erzählung «Kling-sors letzter Sommer»: «Plötzlich stand die Königin der Gebirge da, schlanke elastische Blüte, straff und federnd, ganz in Rot, brennende Flamme, Bildnis der Jugend.» Nicht gerade ihre Jugend, aber zumindest die ersten Jahre ihrer Kindheit verbrachte eine andere Schönheit in Carona: Model und Moderatorin Michelle Hunziker.

Wir lassen die vielen einladenden Grotti mit ihren dicht bewachsenen Pergolen links liegen und wandern nun bergauf in den oberhalb von Carona liegenden botanischen Garten «Parco San Grato». Auf gut 60 000 Quadratmetern Fläche gedeiht in diesem Park eine äusserst vielseitige Sammlung an Azaleen, Rhododendren und Nadelbäumen. Ursprünglicher Besitzer dieses Grundstückes war der St. Galler Martin Othmar Winterhalter, der hier seine Sommerresidenz einrichtete – im einstigen Pferdestall befindet sich heute ein Restaurant. Winterhalter war ein gewiefter Industrieller, der 1923 das Patent eines Vorläufers des modernen Reissverschlusses erwarb. Der 34-jährige Winterhalter entwickelte die Erfindung weiter und daraus entstand der «Riri»-Reissverschluss – dessen Funktionsweise bis heute Bestand hat. Doch Winterhalter verschleuderte sein Vermögen, wurde von seinen Geschwistern entmündigt und in eine psychiatrische Klinik eingewiesen, wo er 1961 verstarb. Das Grundstück «San Grato» erwarb 1957 Luigi Giussani, Gründer der ehemaligen Stahlwerke in Bodio (TI), und legte den heutigen botanischen Garten an.

Dieser Tag kommt niemals wieder

In der Nähe des Spielplatzes des Parks gönnen wir uns Wurst, Käse und Brot, umgeben von seltenen Koniferen, Riesenrhododendren und japanischem Ahorn. Wir geniessen die sommerliche Wärme, im Wissen, dass nördlich der Alpen die Temperaturen schon herbstlich kühl sind. Nach unserer Rast sind wir für eine gute halbe Stunde sozusagen in einem Baumtunnel unterwegs: das Blätterwerk der Bäume, die den Weg säumen, über unseren Köpfen. Von einer Lichtung aus ist der Monte San Giorgio am gegenüberliegenden Seeufer gut zu sehen. Das Gebiet ist ein Unesco-Weltnaturerbe, denn der Berg gehört zu den weltweit bedeutendsten Fundstellen für marine Fossilien. Kaum vorstellbar, aber vor gut 200 Millionen Jahren bildeten die Gesteine des Monte San Giorgio ein rund 100 Meter tiefes Meeresbecken. Versteinerungen von bis zu sechs Meter langen Reptilien wurden gefunden.

«Achtundneunzig, Neunundneunzig, Hundert». Nach der Alpe Vicania befinden wir uns im steilen Abstieg nach Morcote. Die Kinder zählen die Treppenstufen, die den grössten Teil des Weges nach unten ausmachen. Bei Stufe 659 erreichen wir einen Aussichtspunkt, von wo aus wir steil unter uns die rotbraunen Ziegeldächer von Morcote und den Turm mit blauem Kuppeldach der Kirche Santa Maria del Sasso erblicken. Bis zum Bau des Seedammes von Melide im Jahr 1847 war der Hafen von Morcote der grösste des ganzen Luganersees. Hier befand sich der Warenumschlagplatz für den Handel mit Italien. Heute legt nur noch sehr sporadisch ein Schiff im Hafen an. «878», zählen die Kinder unisono: Wir befinden uns auf einem kleinen Platz mit Madonnenstatue – direkt über der Kirche. Neben uns liegt der terrassierte und wunderschön angelegte Friedhof. Dieser trägt, neben der Kirche und den pittoresken Häusern mit ihren Arkaden entlang der Seepromenade, dazu bei, dass Morcote eines der meist fotografierten Sujets des Tessins ist. Bei Stufe 1022 stehen wir vor dem Eingang zur Kirche, die gegen Ende des 15. Jahrhunderts errichtet und im 18. Jahrhundert im barocken Stil umgebaut wurde. Ganz unten im Dörfchen und am See angekommen wird uns gewahr, dass sich unser Bilderbuchtag nun dem Ende zuneigt. Oder um es mit den Worten Hesses aus «Klingsors letzter Sommer» zu sagen: «Dieser Tag kommt niemals wieder, und wer ihn nicht isst und trinkt und schmeckt und riecht, dem wird er in aller Ewigkeit kein zweites Mal angeboten.» Derweil hüpfen die Kinder von der letzten Stufe und verkünden: «1427!»

Kaum vorstellbar, aber vor gut 200 Millionen Jahren befand sich hier ein rund 100 Meter tiefes Meeresbecken.

Zu Fuss in die Postkartenidylle

Anreise / Rückreise: Mit dem Zug bis Lugano-Paradiso und mit der Standseilbahn bis San Salvatore / retour ab Morcote mit Schiff oder Bus via Lugano.

 

Route: San Salvatore – Carona – Alpe Vicania - Morcote

 

Dauer: Reine Laufzeit ca. 3 Stunden

 

Anforderungsgrad: mittel

 

Länge: 9,7 Kilometer

 

Höhenmeter: hinauf 320m, hinab 940m

 

Saison: Frühling bis Spätherbst