Architektur

Le Corbusiers «Stadt in der Stadt»

Die Unité d'habitation in Marseille ist längst Unesco-Weltkulturerbe. Nicht alle Ideen, die Le Corbusier dort umgesetzt hat, haben sich bewährt. Trotzdem sind heute die Wohnungen darin begehrt wie nie. Ein Original-Appartement kann man besichtigen.

von Alexandra von Ascheraden

Journalistin

Marseille war nach dem zweiten Weltkrieg stark zerbombt. Wohnraum fehlte überall. Auch der Architekt Le Corbusier (1887–1965) trug mit der «Cité radieuse» seinen Teil zum Wiederaufbau der Stadt bei – 337 Wohnungen aufs Mal entstanden darin. Die Cité radieuse war keines der üblichen viergeschossigen Stadthäuser, sondern ein in der Baugeschichte der Stadt vorher nie gesehener riesiger Block. 135 Meter lang, 56 Meter hoch. Das Ganze thronte auf Stelzen, war aus damals noch unüblichem Sichtbeton und hatte auch noch für die damalige Zeit unerhört grellfarbige Balkone, nach einem von Le Corbusier eigens ausgeklügelten Farbsystem.

Das alles war deutlich gewöhnungsbedürftig. Offiziell trug der Koloss den Namen «Unité d"habitation». Le Corbusier nannte den Wohnblock «Cité radieuse» – die «strahlende Stadt». Die Marseiller sagten und sagen dem Ganzen lieber «La Maison du fada» – das verrückte Haus.

Ein Vierteljahrhundert am Konzept gefeilt

Le Corbusier jedenfalls war glücklich, dass er den Auftrag erhalten hatte. Am Konzept für seine Cité hatte er bereits ein Vierteljahrhundert lang gefeilt. Es drohte in der Schublade zu verstauben. In Marseille durfte er es doch noch umsetzen. Grundidee war ein Wohnkonzept, in dem sich privater und öffentlicher Raum zu einer Einheit ergänzten. Dem Ganzen lag ein modulares Konstruktionskonzept zugrunde, das mit Normierung und Standardisierung von Konstruktionselementen arbeitete. Der Architekt wollte so zu effizienteren Baumethoden beitragen und Kosten senken. Die individualisierte, ineffiziente und zeitraubende herkömmliche Bauweise seiner Zeit waren ihm ein Graus.

Sichtbeton überforderte Arbeiter

Le Corbusier hatte sich die Umsetzung allerdings deutlich einfacher vorgestellt und klagt in seinem Buch «Oeuvre complète 1946–1952»: Der Bau dauerte «fünf schwierige und gefährliche Jahre, wobei die Zusammenarbeit dauernd gestört war. Die verschiedenen Unternehmer waren nicht aufeinander abgestimmt. Die Arbeiter erwiesen sich gegeneinander als gleichgültig». 1947 hatte er noch angekündigt, das Gebäude werde dank der modularen Bauweise in nur einem Jahr zum Preis von 358 Millionen Francs fertiggestellt. Am Schluss der besagten, für ihn äusserst nervenaufreibenden, fünf Jahre waren Kosten von 947 Millionen Francs aufgelaufen.

Beispielsweise kämpfte Le Corbusier damit, dass das noch ungewohnte Prinzip des Sichtbetons plötzlich sorgfältiges Arbeiten erforderte. Er schreibt: «Die mit der Ausführung der Betonarbeiten beauftragten Arbeiter und die Zimmerleute, die die Verschalungen herstellten, führten ihre Arbeit in der Meinung aus, die Fehler würden, wie es sonst üblich ist, durch Verputzen oder Bemalen aus der Welt geschafft.» Le Corbusier stellte schliesslich einen zuverlässigen Bauarbeiter ausschliesslich dafür ab, an sämtlichen Stellen, die besonders sichtbar waren, «mit seiner Maurerkelle wie ein Bildhauer und mit seinem Meissel zu wirken» und Betonoberflächen herzustellen, wie sie fachgerecht und sorgfältig hergestellte Verschalungen eigentlich ganz von selbst gebildet hätten. Die Ausführung der Betonarbeiten sollte sich trotz aller Nachbesserungen als derart schlampig erweisen, dass die Fassade schon 1965 restauriert werden musste.

Gegengleich verschränkte Wohnungen

Das Gebäude ist so ausgerichtet, dass es gegen den Mistral abschirmt. Fast alle Appartements verfügen über Morgen- und Abendsonne. Das gelingt, weil der Grossteil als Maisonettewohnungen konzipiert ist und durch geschickten Schnitt sowohl auf der West- als auch auf der Ostseite Zimmer hat. Jeweils zwei Wohnungen sind gegengleich auf zwei Stockwerken ineinander verschränkt. Die «descendants» betritt man im oberen Stockwerk und erreicht die übrigen Räume über eine nach unten führende Treppe. Beim gegenläufigen Maisonette («ascendant») führt die Wohnungstür zu Küche und Wohnzimmer. Die Schlafräume erreicht man über eine Treppe.

Die letztere Variante mit Schlafräumen im Obergeschoss entspricht eher der Art, wie man auch ein Einfamilienhaus nutzen würde. Sie ist entsprechend beliebter. Um einen Ausgleich zu schaffen, sind in dieser Variante die Wohnzimmerfenster auf die Hügelseite ausgerichtet. Die «descendants» werden mit Wohnzimmern mit Blick aufs Meer entschädigt.

Auf dem Dach gibt es eine 300-Meter-Laufbahn, ein Schwimmbecken für Kinder, eine Theaterbühne und viel Platz, um einfach zu sein. Zudem gibt es im Haus verteilt vier kleine Clubräume, in denen die Bewohner sich für Kinoabende oder zum Pingpong treffen.

Elektroherd und automatische Kehrrichtentfernung

Die Einrichtung der Wohnungen war auf der Höhe der Zeit. Der Architekt rühmt: «Die Kücheneinrichtung gehört zur Wohnung und besteht aus Dreilochherd (elektrisch), zweiteiligem Spültisch mit automatischer Kehrichtentfernung, Kühlschrank, grossem Arbeitstisch, verschiedenen Wandschränken und Gestellen.»

Das Haus verfügt im siebten und achten Stock über einen eigenen Geschäftstrakt mit Büros und Läden sowie einem Hotel. Man sollte es für den alltäglichen Bedarf nicht verlassen müssen und stattdessen beim Einkaufen Kontakte zu den Nachbarn knüpfen. Auch eine private Krippe sowie einen städtischen Kindergarten mit direktem Zugang zur Dachterrasse gab es einst.

Als besonderen Luxus verfügte jede Wohnung über ein Haustelefon mit Verbindung zum Lebensmittelladen. Die dort bestellten Waren wurden in einen Kasten an der Wohnungstür geliefert. Dieser mündete direkt in den Küchenschrank. Die Hausfrau brauchte nur von ihrer Seite aus in dieses Fach zu greifen, um die Lebensmittel zu entnehmen.

Den Lebensmittelladen gibt es längst nicht mehr. Die meisten Läden des täglichen Bedarfs begannen schon Ende der sechziger Jahre zu verschwinden. In der Ladenzeile sind heute beispielsweise ein Architekturbuchladen oder ein Geschäft für Designmöbel eingezogen. Die zahlreichen Architekturfans, die das Gebäude besuchen, finden dort ihre Souvenirs. Immerhin bietet auch ein Bäcker noch immer seine Waren an.

Mieter kommen nur zögerlich

Die besagte moderne Ausstattung spiegelte sich unweigerlich in der Miete wieder. Die ursprünglich angedachte Durchmischung mit Sozialwohnungen scheiterte ebenfalls daran.

Die Cité wurde anfangs nur zögerlich bezogen. Auch, weil sie weitab der Stadt lag, von der sie heute längst umschlossen ist. Die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr war kläglich. Schliesslich griff der Staat ein und vergab die Appartements an frisch rekrutierte Beamte. Im August 1952 zogen die ersten 80 Polizisten, Finanz- und Postbeamten mit ihren Familien ein.

Musterappartement

Ein im Original erhaltenes Musterappartement kann man im Rahmen von Führungen besichtigen. Die anderen Wohnungen sind längst modernisiert.

 

Was sich die oft zögerlichen Erstmieter kaum hätten träumen lassen: Das Tourismusbüro bietet regelmässig Führungen in der Cité radieuse an.

 

Reservieren kann man unter: marseille-tourisme.com (Stichwortsuche «Cité radieuse)