Vogelwelt

Gefiederter Farbtupfer im Naturgarten

Das Rotkehlchen ist allseits beliebt. Ehemals ein typischer Waldvogel ist es mittlerweile auch ein oft gesehener Gast in Gärten. Dabei kommt es vor allem dort zu Besuch, wo der Natur im Garten Platz gelassen wird.

von Livio Rey

MSc Biologie, Mitarbeiter Öffentlichkeitsarbeit, Schweizerische Vogelwarte, Sempach

Das Rotkehlchen ist schlicht und farbenfroh zugleich. Oft ist der kleine Vogel im schattigen Unterholz versteckt und verrät sich nur durch seine harten «Tick»- Rufe. Lässt er sich aber einmal blicken, fällt sofort die orange Färbung auf Brust, Kehle und Stirn auf. Damit setzt das Rotkehlchen einen Farbtupfer in der Vegetation und ermöglicht tolle Beobachtungs- und Fotogelegenheiten, vor allem im Herbstlaub.

Warnfarbe für Artgenossen

Diese Rotfärbung hat den Menschen seit jeher inspiriert. Im englischsprachigen Raum ist das Rotkehlchen beispielsweise eines der beliebtesten Motive für Weihnachtskarten. Im England des späten 19. Jahrhunderts trugen die Postboten die Weihnachtspost in auffällig roten Jacken aus und wurden deshalb «robins», zu Deutsch Rotkehlchen, genannt. Das Rotkehlchen auf der Karte wurde so zum Weihnachtssymbol.

Es ist seither einer der beliebtesten Vögel in Grossbritannien und gilt sogar als Nationalvogel. Eine Sage erzählt, wie das Rotkehlchen zu seiner roten Brust kam: Es erhielt sie bei der Kreuzigung Jesu. Als es die Krone sah, die am Kreuz Jesus’ Haupt durchbohrte, flog das noch ganz braune Rotkehlchen zu ihm und löste daraus Dornen, um die Schmerzen zu lindern. Dabei besprenkelte Blut seine Brust. In einer anderen Version dieser Sage sah es den am Kreuz leidenden Jesus und flog zu ihm, um ihn mit Gesang zu trösten, wobei es mit dem Blut aus den Wunden gekennzeichnet wurde. In Wahrheit hat die Brustfärbung freilich nichts mit Blut zu tun: Man würde es kaum für möglich halten, aber der kleine Vogel mit Kulleraugen ist äusserst territorial und aggressiv gegenüber Artgenossen. Die orange Brust ist als – nomen est omen – «rotes Tuch» ein Warnsignal an andere Rotkehlchen: «Weg hier, dieses Revier ist besetzt! » Lässt sich der Konkurrent nicht vertreiben, kann es zu erbitterten Kämpfen kommen. Als eine der wenigen Vogelarten ist das Rotkehlchen ganzjährig territorial und verteidigt auch im Winter sein Revier. Daher kann man seinen melancholischen, plätschernden Gesang auch in der kalten Jahreszeit noch vor Sonnenaufgang und bis nach Sonnenuntergang hören. Die Weibchen sehen gleich aus wie die Männchen und – was lange unerforscht war – verteidigen ebenfalls singend ihr Revier. Die Unterscheidung der Geschlechter ist im Winter also selbst für Experten unmöglich Egal ob von Männchen oder Weibchen vorgetragen, dem Gesang des Rotkehlchens hört man gerne zu. Immerhin wurden in dessen Strophen bis zu 275 verschiedene Motive und einige spannende Imitationen anderer Vogelarten nachgewiesen.

Im Unterholz zuhause

Den Gesang des Rotkehlchens hört man bei uns sehr oft: 450 000-650 000 Brutpaare besiedeln unser Land, wie die Schweizerische Vogelwarte für den Brutvogelatlas 2013-2016 berechnet hat. Damit ist es nach Buchfink, Mönchsgrasmücke und Amsel der vierthäufigste Brutvogel der Schweiz und somit sogar häufiger als der Haussperling! Dem Rotkehlchen geht es in der Schweiz sehr gut, der Bestand ist zurzeit fast ein Drittel grösser als im langjährigen Durchschnitt. Es kommt praktisch in allen Wäldern vor, vor allem in solchen mit reichlich Unterholz. Daneben besiedelt es auch dichte Hecken, Parkanlagen und Siedlungen mit gebüschreichen Gärten. Wer also diesen gefiederten Farbtupfer und virtuosen Sänger bei sich im Garten beobachten möchte, sollte ein gewisses Mass an Natur im Garten zulassen.

Besuch nur in naturnahen Gärten

Da das Rotkehlchen sich gerne im Unterholz aufhält, kommt es kaum in Gärten vor, die übermässig gepflegt werden. Wo der Rasen allzu regelmässig gemäht wird, wird man sich kaum je an seiner Anwesenheit erfreuen können. Im naturnahen Garten hingegen darf man hoffen, dass es zu den regelmässigen Besuchern gehört. Um das Rotkehlchen in den eigenen Garten zu locken, ist beispielsweise dichtes Gebüsch aus Schwarzem Holunder (Sambucus nigra) und Heckenrose (Rosa canina) und eine krautige Bodenvegetation wichtig. Es legt sein napfförmiges Nest aus Moos, Halmen und Wurzeln nämlich sehr gut geschützt in Nischen und Schlupfwinkeln direkt am Boden an. Wo es keine solchen Verstecke gibt, etwa in Schottergärten, bleibt auch das Rotkehlchen fern. Eine Studie konnte denn auch bestätigen, dass Rotkehlchen einen höheren Bruterfolg hatten, wenn die Bodenvegetation dichter war. Die Reviergrösse hatte dagegen keinen Einfluss auf den Bruterfolg. Dichte Vegetation ist also zur Tarnung für das Nest sehr wichtig, denn das Weibchen sitzt rund zwei Wochen auf den Eiern, bis die Jungen schlüpfen. Danach dauert es noch einmal so lange, bis die Jungen das Nest verlassen und selbstständig sind. Da Rotkehlchen meist nur wenige Jahre alt werden (in der Schweiz beträgt das Rekordalter 7 Jahre), muss es in seinem kurzen Leben so viele Junge wie möglich aufziehen. Daher wird nach der ersten Brut noch im selben Jahr ein neues Nest gebaut und ein zweites Mal gebrütet. 

Bäume und Büsche im Garten sind auch aus einem anderen Grund wichtig: Das Rotkehlchen sucht sehr gerne am Boden in der Laubstreu nach Insekten, Spinnen und Würmern. Falllaub im Garten hat also nichts mit Unordnung zu tun, sondern bietet einen reich gedeckten Tisch für Rotkehlchen und übrigens auch für Amseln und weitere Vogelarten. Zu Haufen aufgeschichtet mit einer Kammer in der Mitte und mit etwas Holz beschwert bietet es zudem beispielsweise dem Igel ein Versteck für den Winter. Abgeworfene Blätter sollten also im Herbst nicht entfernt, sondern im Garten belassen werden.

Wer zudem von Hand Unkraut jätet oder mit dem Rechen statt mit dem Laubbläser das Laub zusammenträgt, tut nicht nur etwas für seine eigene Fitness und die Ruhe im Quartier, sondern kommt vielleicht sogar in den Genuss einer ganz speziellen Beobachtung: Rotkehlchen nähern sich oft bei solchen Gartenarbeiten, manchmal bis auf weniger als 1 Meter Distanz, um freigelegte Insekten und Würmer zu erbeuten.

Auch im Winter nur im vogelfreundlichen Garten

Da in der Schweiz zahlreiche Gärten und Parkanlagen stark herausgeputzt werden, ist die Dichte des Rotkehlchens in Siedlungen deutlich tiefer als in Wäldern. Es kommt aber im Winter auf der Nahrungssuche vermehrt in Städte und Dörfer. Auch im Winter bevorzugt es Gärten, die naturnah gestaltet und gepflegt sind. Es frisst auch im Herbst und Winter keine Körner, sondern neben Wirbellosen insbesondere angefaultes Obst und Beeren einheimischer Büsche, beispielsweise von Pfaffenhütchen (Euonymus europaeus), Gemeinem Liguster (Ligustrum vulgare), Schneeball (Viburnum sp.), Hartriegel (Cornus sanguinea) und Schwarzem Holunder. Zudem profitiert es auch jetzt von liegengelassenem Laub. Beim Stöbern findet es darin überwinternde Insekten, Spinnen und Würmer. Belässt man also naturnahe Bereiche im Garten, lädt man diesen gefiederten Farbtupfer und seinen winterlichen Vogelgesang zu sich ein und darf auf spannende Beobachtungen hoffen.

Verschiedene Strategien für den Winter

Vögel, die das ganze Jahr in einer Region leben, nennt man Standvögel. Dazu gehören beispielsweise der Haussperling oder die Rabenkrähe. Zugvögel dagegen verlassen ihr Brutgebiet im Herbst und überwintern in einer anderen Region, zum Beispiel Schwalben. Zwischen diesen beiden Extremen gibt es aber zahlreiche Zwischenformen. Das Rotkehlchen ist das ganze Jahr in der Schweiz zu beobachten, gilt aber als Teil- und Kurzstreckenzieher: Die meisten «unserer» Rotkehlchen ziehen im Herbst in den Mittelmeerraum (sie sind also Kurzstreckenzieher, wohingegen die Langstreckenzieher südlich der Sahara überwintern), während Rotkehlchen aus nördlicheren Populationen bei uns überwintern. Auch wenn wir also das ganze Jahr Rotkehlchen sehen, handelt es sich dabei um unterschiedliche Individuen. Ein kleiner Teil unserer Rotkehlchen harrt aber auch im Winter bei uns aus und zieht nicht, deshalb gehört die Art auch zu den Teilziehern. Da das Rotkehlchen nicht im Schwarm sondern allein und nachts zieht, ist sein Zugverhalten für uns praktisch unsichtbar. Als Bewohner des dichten Unterholzes, der auch in der Dämmerung aktiv ist, muss das Rotkehlchen auch bei wenig Licht gut sehen können. Das erklärt die grossen Kulleraugen, die es für uns so sympathisch machen. Insbesondere am Tag aktive Vogelarten, die wie beispielsweise die Finken auch tagsüber ziehen, haben im Verhältnis zur Körpergrösse deutlich kleinere Augen.

Weitere Informationen zum Rotkehlchen, Karten und Grafiken sowie eine Aufnahme des Gesangs finden Sie unter: www.vogelwarte.ch/rotkehlchen