Einrichten

Cluttercore: Bei der Innenraumdekoration darf es gern ein bisschen mehr sein

Inneneinrichtung Üppig, chaotisch und bunt statt minimalistischer Reduziertheit. Wieso der Mehr-ist-mehr-Trend Cluttercore auch etwas mit Aufräumweltmeisterin Marie Kondo zu tun hat.

von Silvia Schaub

Journalistin

In der Küche von Kath Hitchings gibt es kaum eine leere Fläche, die nicht mit irgendwelchem Krimskrams – pardon: Objekten – vollgestellt ist. Von der Decke hängen bunte Pilzlampen und Zimmerpflanzen, an den Wänden baumeln Tassen in allen Farben, am Gewürzgestell Girlanden. Dazu allerlei selbstgemachte Kreationen wie gestrickte Ornamente oder geknüpfte Teppichbilder. Auch im Entrée und im Wohnzimmer sieht es nicht anders aus. Wie in einem Wimmelbild fühlt man sich da. Und trotzdem wirkt alles irgendwie harmonisch. Die Künstlerin und Kunstlehrerin aus Farnham in England alias @knitchings liegt mit ihrem lebendigen Zuhause voll im Trend. Cluttercore nennt sich dieser Einrichtungsstil, der auf den sozialen Medien wie Tiktok oder Instagram gerade massenhaft für Klicks sorgt.

Es bizzli mee

Die Bedeutung steckt bereits im Namen: Der englische Begriff «clutter» heisst so viel wie Unordnung oder Krimskrams, «core» steht für Kern. Bei diesem Einrichtungsstil darf es gerne «es bizzli mee sii». Man reibt sich verwundert die Augen: War da nicht eben noch ein ganz anderer Fokus? Möglichst minimalistisch, reduziert und schnörkellos? Und jetzt das: Individualität und Vielfalt dürfen, ja sollen unbedingt ausgelebt werden – mit all dem Nippes und Kleinkram, den man nun nicht länger verstecken oder gar entsorgen muss. Mit Cluttercore erleben wir wieder dieses nostalgische, heimelige Gefühl eines Zuhauses. Schliesslich besteht dieser Einrichtungstrend aus einer Ansammlung von Gegenständen, die den eigenen Lebensstil widerspiegeln, im besten Fall mit persönlichen Erinnerungen verbunden sind. Das können Ausstellungsplakate oder Konzertkarten, Instrumente oder besondere Erbstücke, Flugtickets oder einfach eine Sammlung kurliger Gegenstände sein. Zu Cluttercore gehören auch Galerienwände, die vom Boden bis zur Decke reichen. Warme Wandfarben und natürlich Pflanzen. Es sind die kleinen Details, die zählen und Beachtung erhalten. Zum Beispiel indem man ein Bücherregal farblich sortiert und dazwischen kleine Figuren und Deko-Gegenstände platziert oder die Bilderrahmen ausschliesslich mit schwarzen, weissen oder goldenen Rahmen wählt.

Geordnetes Chaos

Auch Jonna Schreibman (The Maximalist Dreamer) und Helma Bongenaar richten sich nach dieser Devise ein. Doch so zusammengewürfelt alles auf den ersten Blick auch aussehen mag: Es handelt sich dabei um eine durchdachte, bewusste Zusammenstellung, die manchmal fast wie eine Ausstellung kuratiert wird. Geordnetes Chaos könnte man es nennen. Dieser Trend lebt auch von der Wiederholung gleicher Objekte.

«Die richtige Balance zwischen ‹clutter› und ‹core› zu finden, ist ein wichtiger Aspekt», betont Nadja Stäubli. Die Zürcherin bringt mit ihrem Label Sula für Interior Objects und Textilien frischen Wind in die vier Wände. Auch diese sind bunt und frech und können somit eine perfekte Ergänzung zu dieser Einrichtungsästhetik sein. Es sei entscheidend, dass die überladene Atmosphäre immer noch harmonisch und ansprechend wirke, erklärt Nadja Stäubli. Sie schlägt vor, am besten Farbpaletten und Materialien zu wählen, die die verschiedenen Elemente miteinander verbinden. «Struktur und Organisation sind ebenso wichtig, um ein Chaos zu vermeiden.» Aber letztlich sei der persönliche Geschmack sehr individuell, und es gebe keine Regeln dafür, was «stimmig» sei. «Hauptsache, man ist happy, wenn man den Raum betritt. Dann hat man alles richtig gemacht.»

Ursprung in der Pandemie

Dass gerade jetzt das Pendel vom reduzierten Millennial-Minimalismus ins Gegenteil umgeschlagen hat, überrascht Oona Horx Strathern nicht. Solche Gegenbewegungen seien völlig normal, meint die in Wien lebende Zukunftsforscherin aus Irland. Sie berichtet regelmässig in ihren Home-Reports über das Wohnen der Zukunft. Den Ursprung hat Cluttercore übrigens in der Pandemie, als man das Zuhause zu einer heimeligen Höhle verwandelte. «Es geht vor allem auch um einen Ausgleich im Chaos der digitalen Welt, der analoge und authentische Werte vermittelt. Cluttercore ist wie ein Spiegel der realen Welt.»

Dass sich auch die junge Generation Z dieser Wohnästhetik zuwende, sei naheliegend. «Bei dieser Generation sehe ich eine besondere Vorliebe für Individualität», betont Nadja Stäubli. «Cluttercore ermöglicht es ihnen, ihrer Persönlichkeit mehr Ausdruck zu geben, indem sie persönliche Sammlungen und Erinnerungsstücke in den Wohnraum integrieren. Dennoch betrachten wir bei Sula Trends nicht ausschliesslich im Kontext bestimmter Generationen.» Schliesslich sei die Neigung zum Sammeln und Gestalten von Räumen eine zeitlose Eigenschaft, die Menschen jeden Alters verbinde.

Ist die neu entfachte Liebe für diese reichhaltige und vielschichtige Ästhetik eine bewusste Abkehr von Marie Kondos Aufräum-Methode? «Überhaupt nicht», betont Oona Horx Strathern, «im Kern ist es genau Kondos Credo, nämlich dass man sich mit den Sachen umgibt, die man liebt und die einem wichtig sind.» Nur eben beschränkt man sich nicht nur auf ein paar wenige Stücke. Ein wichtiger Aspekt in dieser Entwicklung sei, dass man sich heute vom Statuseinkauf zum Wohlfühlstatus bewege. Dabei erhält – wen wunderts – die Nachhaltigkeit noch mehr Wert. Nicht nur, dass die Möbel ökologischer sein müssen, oft werden schon gebrauchte Objekte gekauft oder von den Eltern oder Grosseltern übernommen. Das widerspiegle die sogenannte «Kindness Economy», die sie in ihrem gleichnamigen Buch erklärt. Die Wirtschaft stehe vor einem Paradigmenwechsel, ist sie überzeugt, der sich von der Wachstums- zur Freundlichkeitsökonomie wandle. «Diese Kindness-Revolution wird Einfluss auf all unsere Lebensbereiche haben: Wie wir unseren Alltag leben, wie wir arbeiten, was wir kaufen – und auch wie wir wohnen.»

Allerdings: Auf die Schnelle kann man sein Zuhause nicht in ein Gesamtkunstwerk à la Cluttercore verwandeln. Diese Ästhetik, sagte Künstlerin Kath Hitchings in einem Interview über ihre Einrichtung, basiere tatsächlich auf jahrelanger Arbeit.